Dietrich Bonhoeffer: Ethik
Exzerpt aus Dietrich Bonhoeffer, Ethik, hg. v. Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green, DBW 6, München 1992
Christus, die Wirklichkeit und das Gute.
Christus, Kirche und Welt
Für eine christliche Ethik sind "die beiden Fragen ... 'wie werde ich gut?' und 'wie tue ich etwas Gutes' von vornherein als der Sache unangemessen aufzugeben"; entscheidend ist die "Frage nach dem Willen Gottes"; diese Frage setzt eine "Glaubensentscheidung" (31) voraus.
Nicht das menschliche Ich, das sich in den beiden Fragen manifestiert, sondern die "ganz andere letzte Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit Gottes, des Schöpfers, Versöhners und Erlösers" ist maßgebend. Um "das gläubige Ja ... zu seiner Offenbarung" (32) geht es, und aufgrund ihrer "kann die Frage nach dem Guten nur in Christus ihre Antwort finden" (33).
"Das Problem der christlichen Ethik ist das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen, wie das Problem der Dogmatik die Wahrheit der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus ist."
Diese "Beziehung von Wirklichkeit und Wirlichwerden" entspricht der "von Jesus Christus und Heiligem Geist" (34). "Gutseinwollen gibt es nur als Verlangen nach dem in Gott Wirklichen" (35).
Bei der Frage nach dem Guten ist nicht zwischen Person und Werk, Motiv oder Erfolg zu trennen, sondern es sind "nur beide zusammen gut oder schlecht, also beide zusammen nur als Einheit zu verstehen". Ebensowenig kann zwischen "Individuum und Gesellschaft" unterschieden werden oder von einer "Sozialethik" (36) die Rede sein. "Eine Gesinnungsethik bleibt ebenso an der Oberfläche wie eine Erfolgsethik." Begründung der genannten Einheit: "Das göttliche: siehe, es war sehr gut, meinte das Ganze der Schöpfung" (37).
"'Schöpfung' heißt dieses unteilbare Ganze seinem Ursprung nach, seinem Ziel nach heißt es Reich Gottes. Beides ... ist uns allein gegenwärtig in Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus.
Teilbekommen an dem unteilbar Ganzen der Gotteswirklichkeit ist der Sinn der christlichen Frage nach dem Guten" (38).
Eine positivistische Ethik, die das Gute empirisch bestimmt und auf die Zweckorientierung beschränkt, leugnet die Wirklichkeit Gottes. "In Jesus Christus ist die Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt eingegangen" (39). Die Wirklichkeit Gottes ist dabei nicht wieder ein "Prinzip", das in der Welt durchzusetzen wäre, sondern es geht "darum, an der Wirklichkeit Gottes und der Welt in Jesus Christus heute teilzuhaben" (40).
Der Gegensatz zwischen der "Wirklichkeit Gottes" und der "Wirklichkeit der Welt" ist eine Konstante in einem "Großteil des traditionellen christlich-ethischen Denkens" (41). Demgegenüber ist festzuhalten: "An Christus teilhabend stehen wir zugleich in der Gotteswirklichkeit und in der Weltwirklichkeit" (43).
Es gibt daher nicht zwei Räume, sondern nur den einen Raum der Christuswirklichkeit, in dem Gottes- und Weltwirklichkeit miteinander vereinigt sind" (43f.).
Diese Einheit "verwirklicht sich immer wieder an den Menschen" und besteht nur "im Glauben" an die "Christuswirklichkeit". Innerhalb dieser Einheit müssen sich das Christliche und das Weltliche immer wieder gegenseitig korrigieren und relativieren.
"Allein in diesem Sinn einer polemischen Einheit darf Luthers Lehre von den Zwei Reichen aufgenommen werden und ist sie wohl auch ursprünglich gemeint" (45).
Eine Aufspaltung dieser Einheit ist "gesetzliches Denken", da sie der Welt den Zuspruch "des Angenommenseins der Welt in Christus" im Evangelium vorenthält (46).
Doch werden im Neuen Testament für die Kirche räumliche Bilder verwendet (Tempel, Leib). Doch gilt:
"Wenn Gott in Jesus Christus Raum in der Welt beansprucht, ... so faßt er in diesem engen Raum zugleich die ganze Wirklichkeit der Welt zusammen ... So ist auch die Kirche Jesu Christi der Ort - das heißt der Raum - in der Welt, an dem die Herrschaft Jesu Christi über die ganze Welt bezeugt und verkündigt wird."
"Die Kirche kann ihren eigenen Raum auch nur dadurch verteidigen, daß sie nicht um ihn, sondern um das Heil der Welt kämpft."
Ein geheiligtes Leben der Kirche in der Welt ist dabei vorausgesetzt; er wird immer wieder "durchbrochen ... durch das Zeugnis der Kirche von Jesus Christus" (50).
Auch eine Aufspaltung in "Christusreich und Teufelsreich" ist nicht zulässig, da "der Raum des Teufels immer nur unter den Füßen Jesu Christi ist". Auch wenn die Welt dies nicht erkennt und dem Zeugnis der Kirche Feindschaft entgegenbringt, ist sie immer wieder darauf "anzusprechen", daß sie "in Christus mit Gott versöhnt ist" (51). "So wird auch und gerade die verlorene und gerichtete Welt unaufhörlich in das Christusgeschehen hineingezogen" (52).
Für den Begriff der Gemeinde gilt, "daß im Leibe Christi alle Menschen angenommen, beschlossen, getragen sind und daß die Gemeinde der Glaubenden eben dies der Welt durch Worte und Leben kundzutun hat" (53).
Zum Verständnis der "Unterschiedenheit von Gemeinde und Welt":
"Die Welt steht in Beziehung auf Christus, ob sie es weiß oder nicht", und dies "wird konkret in bestimmten Mandaten Gottes in der Welt ...: die Arbeit, die Ehe, die Obrigkeit, die Kirche" (54). Diese Mandate erhalten ihren göttlichen Charakter durch den göttlichen Auftrag in Christus. Daher gibt es "keinen Rückzug aus einem 'weltlichen' in einen 'geistlichen' 'Raum', sondern es gibt nur ein Einüben des christlichen Lebens unter jenen 4 Mandaten Gottes" (55). Die vier göttlichen Mandate existieren durch und werden gemessen am Gebot Gottes. "Einzelne Verfehlungen" beseitigen nicht das Mandat, sondern rufen zur "Rückkehr zu der echten Unterordnung unter das göttliche Mandat" (56).
Arbeit (Gen 2,15; 3,17-19; 4,17ff.): Die "Arbeit" ist "ein mitschöpferisches Tun der Menschen." Sie ist "keine Schöpfung aus dem Nichts", sondern "ein Schaffen von Neuem aufgrund der ersten Schöpfung Gottes" (57). Gleichzeitig geschieht sie im Warten auf die kommende göttliche Welt in Christus. Der "Schatten", der auf dem Mandat der Arbeit liegt, kommt daher, daß es an "das Geschlecht Kains" ergeht.
Ehe: "In der Ehe werden die Menschen eins vor Gott, wie Christus mit seiner Kirche eiuns wird ... (Eph 5,31f)". Auch hier geschieht Teilhabe an der Schöpfung: "Die Eltern sind für das Kind Gottes Stellvertreter als seine Erzeuger und Erzieher im Auftrage Gottes." Zeugung und Erziehung geschehen "zur Verherrlichung und zum Dienste Jesu Christi". Doch liegt durch den ersten Sohn und Brudermörder kein wie bei der Arbeit "ein dunkler Schatten auf Ehe und Familie" (58).
Obrigkeit: "Die Obrigkeit ... hält das Geschaffene in seiner ihm durch Gottes Auftrag zuteilgewordenen Ordnung" (58f.), daher ist ihr jedermann "Gehorsam schuldig - um Christi willen".
Kirche: Die Kirche hat in allen drei vorhergehenden Mandaten "den Auftrag, die Wirklichkeit Jesu Christi in Verkündigung, kirchlicher Ordnung und christlichem Leben wirklich werden zu lassen", daher hat ihr Mandat universalen Charakter (59). Denn "daß es sich in allen übrigen Mandaten ... um den ganzen Menschen vor Gott ... handele, ... eben dies hat die Kirche der Welt zu bezeugen" (60).
Der eingangs hervorgehobene "Wille Gottes ist bereits von Gott selbst erfüllt, indem er die Welt mit sich versöhnte in Christus." Daher gilt:
"Es kann nach der Erscheinung Christi in der Ethik nur noch um eines gehen, nämlich an der Wirklichkeit des erfüllten Willens Gottes teilzubekommen. Aber auch dieses Teilbekommen ist nur aufgrund der Tatsache möglich, daß in der Erfüllung des Willens Gottes in Christus bereits auch ich selbst mit eingeschlossen und das heißt mit Gott versöhnt bin... Der Glaube an diesen Jesus Christus ist die alleinige Quelle alles Guten" (61).
Ethik als Gestaltung
Alle ethischen Theorien und Programme scheitern an der aktuellen Wirklichkeit, denn "allein ein schlichtes Stehen in der Wahrheit Gottes und ein im Blick auf sie einfältig und klug gewordenes Auge erfährt und erkennt die ethische Wirklichkeit" (64). Doch man darf nicht "solches Versagen und Scheitern schmähen":
"Die Vernunft, der ethische Fanatismus, das Gewissen, die Pflicht, die freie Verantwortung, die stille Tugend sind Güter und Haltungen hohen Menschentums" (66).
Diese "Waffen" sind durch die Tradition der Väter überliefert, können "aber dem gegenwärtigen Kampf nicht mehr genügen ... Nur wer hier Einfalt und Klugheit miteinander zu verbinden vermag, kann bestehen."
"Einfältig ist, wer ... allein die schlichte Wahrheit Gottes im Auge behält ... Nicht gefesselt durch Prinzipien, sondern gebunden durch die Liebe zu Gott ist er frei geworden von den Problemen und Konflikten der ethischen Entscheidung ... Klug ist darum allein, wer die Wirklichkeit in Gott sieht" (67).
Dabei gilt: "Mit ungeteiltem Blick auf Gott und auf die Wirklichkeit der Welt zu schauen vermag kein Mensch, solange Gott und die Welt zerrissen sind." Doch gibt es "einen Ort, an dem Gott und die Weltwirklichkeit miteinander versöhnt sind... er liegt in Jesus Christus, dem Weltversöhner" (68).
So vermag "ganz allein die vollkommene Liebe Gottes ... der Wirklichkeit zu begegnen und sie zu überwinden", und zwar "die wirklich gelebte Liebe Gottes in Jesus Christus". "Diese ... zieht sich nicht aus der Welt zurück ..., sondern sie erfährt und erleidet die Wirklichkeit der Welt aufs härteste... Ecce homo" (69).
In Jesus Christus nimmt Gott die Gottlosigkeit und Schuld der Welt auf sich und löscht sie damit aus. Wir haben kein Recht, über andere Menschen zu richten, denn "Gott tritt auf die Seite des wirklichen Menschen und der wirklichen Welt gegen alle ihre Verkläger."
"Jesus Christus ist nicht die Verklärung hohen Menschentums, sondern das Ja Gottes zum wirklichen Menschen... In dem Menschen Jesus Christus ist das Urteil über die ganze Menschheit ergangen, wiederum nicht das teilnahmslose Urteil des Richters, sondern das barmherzige Urteil dessen, der das Geschick der ganzen Menschheit selbst durchleidet und trägt" (71).
"Die Botschaft von der Menschwerdung Gottes" schließt "Menschenverachtung oder Menschenvergötzung" aus (72). Diese ist nicht nur bei den derzeitigen gewalttätigen "Tyrannen" vorhanden bzw. wird von ihnen betrieben, sondern auch der "Gute ..., der dies alles durchschaut, der sich angeekelt von den Menschen zurückzieht und sie sich selbst überläßt, ... erliegt doch derselben Versuchung der Menschenverachtung wie der Böse." Beide Formden der Menschenverachtung können vor "der Menschwerdung Gottes" nicht bestehen. "Der Menschenverächter verachtet, was Gott geliebt hat, ja er verachtet die Gestalt des menschgewordenen Gott[es] selbst" (73).
Doch gibt es auch "eine aufrichtig gemeinte Menschenliebe", die das Gute im Menschen zu sehen versucht.
Doch dann "liebt [man] ein selbstgemachtes Bild des Menschen, das kaum noch Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit hat und verachtet damit schließlich doch wieder den wirklichen Menschen, den Gott geliebt und dessen Wesen er angenommen hat."
Im gekreuzigten Christus ist noch eine weitere Dimension zu entdecken:
"Ecce homo - seht den von Gott gerichteten Menschen!" (74). "Nur als von Gott gerichteter kann der Mensch vor Gott leben, nur der gekreuzigte Mensch ist im Frieden mit Gott. [...] Von Gott angenommen, im Kreuze gerichtet und versöhnt, das ist die Wirklichkeit der Menschheit."
Dieser "Gestalt des Gerichteten und Gekreuzigten" muß einer Welt, die sich am Maßstab des Erfolges orientiert, fremd bleiben (75).
"Die Gestalt des Gekreuzigten setzt alles am Erfolg ausgerichtete Denken außer Kraft; denn es ist eine Verleugnung des Gerichtes... Es geht bei ihm [Jesus] nicht um Erfolg oder Mißerfolg, sondern um das willige Annehmen des Gerichtes Gottes. Nur im Gericht gibt es Versöhnung mit Gott und unter den Menschen" (77).
Dabei gibt es in der Gemeinde Christi immer wieder Beispiele dafür, "daß gerade das Kreuz Christi, also sein Scheitern an der Welt, wiederum zum geschichtlichen Erfolg führt", wobei daraus "keine Regel gemacht werden kann".
Schließlich ist noch eine weitere Dimension der Gottesoffenbarung in Christus zu betonen:
"Ecce homo - seht den von Gott angenommenen, von Gott gerichteten, von Gott zu einem neuen Leben erweckten Menschen, seht den Auferstandenen! [...] In Jesus Christus, dem Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen, ist die Menschheit neu geworden".
Die Auferstehung nimmt "Vergötzung des Todes", "krampfhafte[r] Lebensbejahung" (78) und "gleichgültiger Lebensverachtung" (78f.) die Grundlage. Man sieht das Leben realistisch und erwartet den "neuen Menschen und die neue Welt von jenseits des Todes her" (79).
Zusammenfassend gilt: "Der von Gott angenommene, gerichtete, zu neuem Leben erweckte Mensch, das ist Jesus Christus..." Gestaltung geschieht daher nicht durch christliche Programme, die letztlich wirkungslos bleiben, sondern:
"Gestaltung gibt es vielmehr allein als Hineingezogenwerden in die Gestalt Jesu Christi, als Gleichgestaltung mit der einzigen Gestalt des Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen" (80).
Dabei geht die Anstrengung nicht vom Menschen aus:
"Nicht christliche Menschen gestalten mit ihren Ideen die Welt, sondern Christus gestaltet die Menschen zur Gleichgestalt mit ihm...
Gleichgestaltet mit dem Menschgewordenen - das heißt wirklicher Mensch sein."
Es geht nicht um "Übermenschentum", denn: "Der wirkliche Mensch ist weder ein Gegenstand der Verachtung noch der Vergötterung, sondern ein Gegenstand der Liebe Gottes" (81).
Die Gleichgestaltung mit Christus hat folgende Konsequenzen:
"Gleichgestaltet mit dem Gekreuzigten - das heißt von Gott gerichteter Mensch sein. Der Mensch trägt das Todesurteil Gottes, das Sterbenmüssen vor Gott um der Sünde willen täglich mit sich herum. [...]
Gleichgestaltet mit dem Auferstandenen - das heißt vor Gott ein neuer Mensch sein".
Beim erneuerten Menschen ist zwar "die Herrlichkeit seines neuen Lebens" (82) noch verborgen, doch lebt er im Wissen der kommenden Zukunft. So lebt er im "Zeichen des Kreuzes" als Zeuge des Auferstandenen.
Der Mensch wird durch Christus in die ihm eigentlich zugedachte Gestalt verwandelt: "Gott selbst verwandelt seine Gestalt in die Gestalt des Menschen, damit der Mensch zwar nicht Gott, aber Mensch vor Gott werde" (83).
Dabei ist es "ein Geheimnis ... daß nur ein Teil der Menschheit die Gestalt ihres Erlösers erkennt" (83). "Er, der die Gestalt des Menschen trug, kann nur in einer kleinen Schar Gestalt gewinnen: das ist seine Kirche."
Die Kirche als "Leib Christi ... ist ... nicht eine Religionsgemeinschaft von Christusverehrern, sondern der unter Menschen gestaltgewordene Christus... Die Kirche trägt nun die Gestalt, die in Wahrheit der ganzen Menschheit gilt... Was sich in ihr ereignet, geschieht vorbildlich und stellvertretend für alle Menschen."
Doch sobald vergessen wird, daß Kirche das "Gestaltwerden [Christi] unter einer Schar von Menschen" (84) bedeutet, "so fallen wir unvermeidlich zurück in jene Programmatik ethischer oder religiöser Weltgestaltung, von der wir ausgingen."
Doch besteht die Aufgabe der Kirche nicht darin, daß "die Kirche sozusagen als Vorbild für die Welt hingestellt" wird, sondern darin, "daß die Menschheit auf ihre wahre Gestalt, die ihr zugehört, ... nämlich auf die Gestalt Jesu Christi hin, die ihr gehört, angesprochen und so - gewissermaßen vorwegnehmend - in die Kirche hineingezogen wird." (85).
Bonhoeffer betont nochmals, daß es hier nicht um eine theoretische Ethik geht: "Christus liebte nicht wie ein Ethiker eine Theorie über das Gute, sondern er liebte den wirklichen Menschen" (86).
"Wir werden damit von jeder abstrakten Ethik weg und auf eine konkrete Ethik hin verwiesen. Nicht was ein für allemal gut sei, kann und soll gesagt [werden], sondern wie Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne."
Deshalb steht auch die "christliche Ethik jenseits von Formalistik und Kasuistik".
Doch erhebt sich die Frage: "was heißt 'unter uns', 'heute', 'hier'?" (87). Zunächst bezeichnen diese Begriffe "den Bereich unserer Entscheidungen und Begegnungen." Hierbei leben wir in einem geschichtlichen "Zusammenhang", für den "bis in unsere Tage die Gestalt Christi sein mit Bewußtsein bejahter und anerkannter tragender Grund gewesen ist" (88), also "das Abendland, die bisher durch die Gestalt Christi geeinte Welt der Völker Europas und Amerikas" (88f.). Hierbei würde "die Beschränkung auf Deutschland ... die Tatsache außer Kraft setzen, daß die Gestalt Christi die Einheit der abendländischen Völker ist.
Auch in diesem Zusammenhang wird hier "kein Programm für eine Gestaltung der abendländischen Welt entwickelt. Aber es wird davon die Rede sein, wie die Gestalt Christi in dieser abendländischen Welt Gestalt gewinnt. [...]
Hier werden konkrete Urteile und Entscheidungen gewagt werden müssen. Hier kann Entscheidung und Tat nicht mehr dem Einzelnen in sein persönliches Gewissen geschoben werden, sondern hier gibt es konkrete Gebote und Weisungen, für die Gehorsam gefordert wird" (89).
Zusammenfassung:
"Ethik als Gestaltung ist nur möglich aufgrund der gegenwärtigen Gestalt Jesu Christi in seiner Kirche. Die Kirche ist der Ort, an dem das Gestaltwerden Jesu Christi verkündigt wird und geschieht. Im Dienst dieser Verkündigung und dieses Geschehens steht die christliche Ethik" (90).
Erbe und Verfall
Die Bedeutung des geschichtlichen Erbes ist begründet durch den "Eingang Gottes in die Geschichte", durch "Gottes Ja und Gottes Nein zur Gecshichte ... in der Menschwerdung und Kreuzigung Jesu Christi". Hierbei geht es nicht umd die "Frage nach den ewig gültigen Werten der Vergangenheit. Vielmehr gibt sich hier der selbst in die Geschichte gestellte Mensch Rechenschaft vor der Gegenwart, wie sie von Gott in Christus angenommen ist" (94).
Die "Frage nach dem geschichtlichen Erbe" lenkt "unseren Blick zurück auf die Väter" als "Zeugen des Eingangs Gottes in die Geschichte".
Im Blick auf die geschichtliche Erscheinung Jesu Christi ist zu betonen:
"Weil aber Jesus Christus der verheißene Messias des israelitisch-jüdischen Volkes war, darum geht die Reihe unserer Väter hinter die Erscheinung Jesu Christi zurück in das Volk Israel. Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unlöslich verbunden, nicht nur genetisch, sondern in echter unaufhörlicher Begegnung. Der Jude hält die Christusfrage offen. Er ist das Zeichen der freien Gnadenwahl und des verwerfenden Zornes Gottes, 'schau an die Güte und den Ernst Gottes' (R 11,22). Eine Verstoßung d. Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen, denn Jesus Christus war Jude."
Die Beziehung der "Antike" (95) zur "Erscheinung Jesu Christi" (95f.): Einerseits ist sie "die Zeit, ... in der Gott Mensch wurde". "Die Antike aber ist es zugleich, für die das heiligste Zeichen der Gegenwart Gottes, das Kreuz, das Symbol äußerster Schande und Gottferne ist."
"Der Repräsentant der Verbindung und Assimilation der Antike mit dem Christlichen wird das römische Erbe, der Repräsentant des Widerstreits und der Christusfeindschaft wird das griechische Erbe."
Ersteres war für "die Völker des westlichen Abendlandes Frankreich, Holland, England, Italien" bestimmend, letzteres für die Deutschen. Das "römische Erbe" wird bis heute durch "die römisch katholische Kirche" repräsentiert. Demgegenüber ist die Reformation gekennzeichnet durch den "Rückgriff auf die griechischen Quellen." (96).
"Der Widerspruch des Natürlichen gegen die Gnade tritt hier der Versöhnung von Natur und Gnade, wie sie im römischen Erbe gefunden wird, schroff gegenüber." Die Betonung der "Menschwerdung Christi" (97) führt zur "Versöhnung zwischen Antike und Christentum" (97f.), betont man "das Kreuz Christi", tritt der "Bruch zwischen Christus und der Antike" hervor. "Weil aber Christus sowohl der Menschgewordene als [auch] der Gekreuzigte" ist, "bleibt auch das rechte Empfangen des geschichtlichen Erbes der Antike noch eine unabgeschlossene abendländische Aufgabe".
Im Blick auf die deutsche "vorchristliche völkische Vergangenheit" ist zu sagen, daß wir mit ihr zwar durch einen "naturhaft wachstümlichen Zusammenhang" verbunden sind, aber
"daß es deutsche - aber auch englische, französische - Geschichte erst seit der Begegnung mit Christus und zwar in der Gestalt des römischen Christentums gibt. Auch die Lösung von Rom als dem Sitz des Papstes hat weder in England noch in Deutschland zu einem Rückgriff auf die eigene vorchristliche Vergangenheit geführt."
"Neuerliche Versuche, an diese eigene vorchristliche Vergangenheit anzuknüpfen", haben daher als "Mythologisierung der Geschichte ... im abendländischen Raum keine Aussicht auf Bestand mehr" (98). "Jesus Christus hat das Abendland zu einer geschichtlichen Einheit gemacht" (99). Deshalb ist mit dem brutalen, zerstörerischen "totalen Krieg", den es bisher im Abendland so nicht gab, "die Einheit des Abendlandes bedroht."
Für das Mittelalter gilt: "Papst und Kaiser ringen um die Gestaltung dieser Einheit", die "durch die Gestalt Jesu Christi" (100) begründet ist.
"Mit der abendländischen Glaubensspaltung zerfällt auch das Kaisertum. Das corpus christianum, die durch Kaiser und Papst im Auftrage Jesu Christi regierte und zusammengefaßte christlich-abendländische Gemeinschaftsordnung zerbricht mit der Reformation" (101).
Luther wollte diese Einheit nicht gezielt sprengen.
"Aber er erkannte unter der Gewalt des biblischen Wortes, daß die Einheit der Kirche allein in dem in seinem Wort und Sakrament lebendigen Jesus Christus, nicht aber in einer politischen Gewalt bestehen könne."
Im Blick auf Luthers Zwei-Reiche-Lehre gilt:
"Aber der Herr beider Reiche ist der in Jesus Christus offenbare Gott. Er regiert die Welt durch das Amt des Wortes und das Amt des Schwertes. Ihm sind die Träger dieser Ämter Rechenschaft schuldig."
Es gab und gibt nur eine "wahre katholische Kirche" (103), nämlich "die durch das Wort Jesu Christi allein regierte Kirche des Glaubens" (102f.) - "der Leib Christi".
Auch nach dem dreißigjährigen Krieg, der mit dem Westfälischen Frieden "die konfessionelle Spaltung als abendländisches Schicksal und Erbe" festschrieb, blieb die Einheit in der Erkenntnis der gemeinsamen "Schuld der abendländischen Christenheit an Jesus Christus" (103).
Doch dann folgte "der große Säkularisierungsprozeß ..., an dessen Ende wir heute stehen" (103f.). Im Protestantismus mißverstand man die Zwei-Reiche-Lehre als "Befreiung und Heiligsprechung der Welt und des Natürlichen", die es doch nicht "an sich, sondern allein durch das gnädige, sündenvergebende Wort Gottes gibt... Damit war der Boden für das Aufblühen der rationalen und empirischen Wissenschaften bereitet" (104), die sich bald abseits vom christlichen Glauben verselbständigten.
Der Konservativismus auf katholischer Seite hingegen führte "im katholischen Frankreich" zum Ausbruch der französischen Revolution. Sie brachte Befreiung im Positiven wie im Negativen: "Die französische Revolution ist die Enthüllung des befreiten Menschen in seiner ungeheuren Gewalt und seiner entsetzlichsten Verzerrung... Man spürte das wirklich Neue mit allen seinen Verheißungen und man fürchtete doch vor allem die Wiederholung des Grauenhaften" (105).
Auf geistigem Gebiet bedeutete diese Befreiung: "Intellektuelle Redlichkeit in allen Dingen, auch in den Fragen des Glaubens, war das hohe Gut der befreiten ratio und gehört seitdem zu den unaufgebbaren sittlichen Forderungen des abendländischen Menschen." Sie ist zwar "nicht das letzte Wort über die Dinge" und geht "oftmals auf Kosten der Tiefe der Wirklichkeit", doch dies "hebt ... niemals mehr die innere Verpflichtung zu ehrlichem und sauberem Gebrauch der Ratio auf."
Auch auf dem Gebiet der Technik brachte "die befreite ratio" umwälzende Veränderungen: Von den Anfängen "bis zum 18. Jahrhundert war die Technik eine Sache des Handwerks. Sie diente der Religion, den Königen, der Kunst und den täglichen Bedürfnissen der Menschen... Die Technik des neuzeitlichen Abendlandes ... ist gerade nicht wesentlich Dienst, sondern Herrschaft und zwar Herrschaft über die Natur" (106). "Die Technik wird Selbstzweck" (106f.) und führt zum "menschlichen Übermut, der eine Gegenwelt gegen die von Gott geschaffene Welt aufrichten will". Dies gilt aber nur für das christliche und reformatorische Abendland; in der islamischen Welt bleibt die Technik "ganz im Dienst des Gottesglaubens und des Aufbaus der islamischen Gemeinschaft" (107).
"Aus der befreiten ratio entsprang die Entdeckung der ewigen Menschenrechte" (108):
"Zuerst schafft sich das Bürgertum neben dem Geburtsadel seine gleichberechtigte Position als Leistungsadel. Die ratio verschafft sich ihr Recht gegen das Blut... Hinter dem Bürgertum aber erhebt sich drohend und dunkel die Masse" (109).
"Wir Heutigen stehen auf dem Höhepunkt und in der Krisis dieser Erhebung."
Die französische Revolution war auch die "Geburtsstunde des neuzeitlichen Nationalismus... Der revolutionäre Begriff der Nation entstand im Gegensatz zu einem überspannten dynastischen Absolutismus" (110). "Es ist daher einer der grotesken historischen Irrtümer, ausgerechnet Preußen als den Geburtsort und Repräsentanten des Nationalismus zu bezeichnen." Preußen lehnte sowohl den revolutionären Nationalismus als auch die "Gegenbewegung" des "Internationalismus" ab und "hat beiden Bewegungen den Staat gegenübergestellt."
"Aber die Revolution hat sich durchgesetzt. Technik, Massenbewegung und Nationalismus sind das abendländische Erbe der Revolution. Alle Drei stehen untereinander in engem Zusammenhang und zugleich in hartem Gegensatz" (111).
"Die französische Revolution hat die neue geistige Einheit des Abendlandes geschaffen." Doch stellt sich heraus, daß nach "der Befreiung des Menschen als ratio, als Masse, als Volk" die drei Größen "zu Todfeinden" werden.
"Es zeigt sich weiterhin - und es wird darin ein Grundgesetz der Geschichte deutlich - daß das Verlangen nach absoluter Freiheit den Menschen in die tiefste Knechtung führt" (112).
Die Befreiung des Menschen als absolutes Ideal führt zur Selbstzerstörung des Menschen."
Das Resultat ist "die abendländische Gottlosigkeit"."Sie ist nicht die theoretische Leugnung der Existenz eines Gottes. Sie ist vielmehr selbst Religion und zwar Religion aus Feindschaft gegen Gott." Sie zieht sogar die verschiedensten christlichen Gewänder an ("nationalistisch, sozialistisch, rationalistisch oder mystisch" [113]).
"Der fundamentale Unterschied zu allem Heidentum besteht darin, daß dort unter menschlicher Gestalt Götter angebetet werden, daß aber hier unter der Gestalt Gottes, ja Jesu Christi, der Mensch angebetet wird" (113f.).
"Die Vergottung des Menschen aber ist - recht verstanden - die Proklamation des Nihilismus. Mit der Zertrümmerung des biblischen Gottesglaubens und aller göttlichen Gebote und Ordnungen zerstört der Mensch sich selbst" (114).
"Das Abendland ist seit der französischen Revolution wesentlich kirchenfeindlich geworden." Die dennoch geringe Zahl der Kirchenaustritte hat ihren Grund darin, daß es "neben der religiös verbrämten Gottlosigkeit" auch "eine verheißungsvolle Gottlosigkeit" gibt: "Sie ist der Protest gegen die fromme Gottlosigkeit, soweit sie die Kirchen verdorben hat und wahrt damit in gewissem, wenn auch negativem Sinne, das Erbe eines echten Gottesglaubens und einer echten Kirche" (115). Doch ist auch zu fragen, "ob der Kirchenaustritt nicht sogar aus echtem Gottesglauben heraus möglich, ja unter bestimmten Umständen notwendig ist" (115f.).
Anders liegen die Verhältnisse in Amerika: "Nicht der befreite Mensch, sondern ganz im Gegenteil das Reich Gottes und die Begrenzung aller irdischen Gewalten durch die Souveränität Gottes begründet die amerikanische Demokratie" (116f.).
Doch gab es in Amerika auch die "vom Spiritualismus der nach Amerika geflüchteten Dissenters herkommende Idee, daß das Reich Gottes auf Erden nicht von der staatlichen Gewalt, sondern allein von der Gemeinde der Gläubigen gebaut werden könne" (117).
Daraus resultierte auch eine "mangelnde Unterscheidung der Ämter und Reiche des Staates und der Kirche. Der Anspruch der Gemeinde der Gläubigen mit christlichen Prinzipien die Welt aufzubauen endet, wie ein Blick in den New Yorker Kirchenzettel zur Genüge zeigt, in dem völligen Verfall der Kirche an die Welt."
Daß der daraus resultierende Säkularismus "dabei nicht zu einer radikalen Kirchenfeindschaft" führt, "hat seinen Grund in der nie vollzogenen Unterscheidung der Ämter."
"Mit dem Verlust seiner durch die Gestalt Jesu Christi geschaffenen Einheit steht das Abendland vor dem Nichts" (118).
"Es ist als Abfall von allem Bestehenden die höchste Entfaltung aller widergöttlichen Kräfte. Es ist das Nichts als Gott..."
"Angesichts des Abgrundes des Nichts erlischt die Frage nach dem geschichtlichen Erbe, dessn Übernahme zugleich Verarbeitung in der Gegenwart und Weitergabe an die Zukunft bedeutet" (119).
Das Bewußtsein des positiven Erbes der Geschichte wie der Sünden der Vergangenheit und der Gegenwart, der Blick für die Zukunft gehen verloren. "Der Verlust von Vergangenheit und Zukunft läßt das Leben schwanken zwischen dem brutalsten Genuß des Augenblicks und abenteuerlichem Hasardspiel" (120), im persönlichen wie im politischen Bereich. Statt "Vertrauen zur Wahrheit" gibt es "sophistische Propaganda", statt "Vertrauen zur Gerechtigkeit ... wird das, was nutzt, als recht erklärt", und "Vertrauen zum anderen Menschen ... wird zur stündlichen argwöhnischen Beobachtung der Menschen untereinander."
"Vor dem letzten Sturz in den Abgrund kann nur zweierlei bewahren: das Wunder einer neuen Glaubenserweckung und die Macht, die die Bibel als 'den Aufhaltenden', katexwn (2 Thess 2,7) bezeichnet, das heißt die mit starker physischer Macht ausgerüstete Ordnungsmacht" (122).
"Der Ort, an dem das Wunder Gottes verkündigt wird, ist die Kirche...
Einer Welt, die sich von Christus abgekehrt hat, nachdem sie ihn gekannt hat, muß die Kirche Jesus Christus als den lebendigen Herrn bezeugen. Als Trägerin geschichtlichen Erbes ist sie mitten im Warten auf den Jüngsten Tag der geschichtlichen Zukunft verpflichtet" (123).
"Dabei erweist sich die Kirche je wirksamer, je zentraler ihre Botschaft ist".
Die Kirche sucht die "Bundesgenossenschaft" mit den "Ordnungsmächten", doch "überläßt" sie den Ausgang deren Strebens "dem Weltregiment Gottes" (124).
Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung
"Seit Gott in Christus Mensch wurde, ist alles Denken über den Menschen ohne Christus unfruchtbare Abstraktion", da der Mensch ohne Christus "früher oder später sich selbst zerstört. Der Abfall des Menschen von Christus ist zugleich sein Abfall von seinem eigenen Wesen."
Der "Abfall von Chistus ... muß als Schuld erkannt werden. Echte Schulderkenntnis erwächst nicht aus den Erfahrungen der Auflösung und des Verfalls, sondern für uns, die wir ihm begegneten, allein an der Gestalt Christi selbst. Sie setzt also ein Maß an Gemeinschaft mit dieser Gestalt voraus. Eben darum ist sie ein Wunder..." (125). "Schulderkenntnis gibt es nur aufgrund der Gnade Christi, aufgrund des Griffes Christi nach dem Abgefallenen. In dieser Schulderkenntnis nimmt der Prozeß der Gleichgestaltung des Menschen mit Christus seinen Anfang."
Dabei ist "die Kirche ... jene Gemeinschaft von Menschen, die durch die Gnade Christi zur Erkenntnis der Schuld an Christus geführt worden ist... Wo es anders wäre, wäre die Kirche nicht mehr Kirche..."
"Darum kann auch nur die Kirche der Ort der persönlichen und gemeinschaftlichen Wiedergeburt und Erneuerung sein" (126).
Hierbei geht es um Erkenntnis der persönlichen Schuld, nicht der der anderen:
"Der Blick auf diese Gnade Christi befreit gänzlich vom Blick auf die Schuld der anderen und läßt den Menschen vor Christus auf die Kniee sinken mit dem Bekenntnis: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa."
Dies macht uns zu "Menschen ..., die ... nicht mehr an vergeltende Gerechtigkeit gegenüber den 'Hauptschuldigen', sondern nur noch an die Vergebung ihrer eigenen großen Schuld denken können.
Es ist zunächst die ganz persönliche Sünde jedes Einzelnen, die hier als vergiftende Quelle für die Gemeinschaft erkannt wird" (127).
"Diese vielen Einzelnen schließen sich ja zusammen in dem Gesamtich der Kirche. In ihnen und durch sie bekennt und erkennt die Kirche ihre Schuld" (128).
Es folgt ein Schuldbekenntnis für die Kirche, das an den Zehn Geboten entlanggeht:
"Die Kirche bekennt, ihre Verkündigung von dem einen Gott, der sich in Jesus Christus für alle Zeiten offenbart hat und der keine anderen Götter neben sich leidet, nicht offen und deutlich genug ausgerichtet zu haben... Sie war stumm, wo sie hätte reden müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie... Sie hat dem Abfall des Glaubens nicht bis aufs Blut widerstanden..."
"Die Kirche bekennt, den Namen Jesu Christi mißbraucht zu haben... Sie hat es mitangesehen, daß unter dem Deckmantel des Namens Christi Gewalttat und Unrecht geschah..." (129).
"Die Kirche bekennt sich schuldig an dem Verlust des Feiertags, ... auch an der Ausbeutung der Arbeitskraft über den Werktag hinaus..." (129f.).
"Die Kirche bekennt, an dem Zusammenbruch der elterlichen Autor(in)ität schuldig zu sein... Sie hat die göttliche Würde der Eltern gegen eine revolutionierende Jugend nicht zu verkündigen gewagt... So ist sie schuldig an der Zerstörung unzähliger Familien, ... an der Selbstvergötterung der Jugend und damit an ihrer Preisgabe an den Abfall von Christus..."
"Die Kirche bekennt, ... das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord, gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi" (130).
"Sie hat der Verhöhnung der Keuschheit und der Proklamation der geschlechtlichen Zügellosigkeit nichts Gültiges und Starkes entgegenzusetzen gewußt..." (130f.).
"Die Kirche bekennt, Beraubung und Ausbeutung der Armen, Bereicherung und Korruption der Starken stumm mitangesehen zu haben."
"Die Kirche bekennt, schuldig geworden zu sein an den Unzähligen, deren Leben durch Verleumdung, Denunzieren, Ehrabschneidung vernichtet worden ist..."
"Die Kirche bekennt, begehrt zu haben nach Sicherheit, Ruhe, Friede, Besitz, Ehre ... und so die Begierden der Menschen nicht gezügelt, sondern gefördert zu haben."
"Die Kirche bekennt sich schuldig aller 10 Gebote, sie bekennt darin ihren Abfall von Christus" (131).
Durch ihr eigenes Verstummen ist die Kirche schuldig geworden an dem Verlust an verantwortlichem Handeln, an Tapferkeit des Einstehens und Bereitschaft für das als recht Erkannte zu leiden. Sie ist schuldig geworden an dem Abfall der Obrigkeit von Christus."
Dem Einwand, die Kirche habe unter Druck gestanden und nicht anders handeln können, entgegnet Bonhoeffer:
"So spricht der Unglaube, der im Bekenntnis der Schuld nicht die Wiedergewinnugn der Gestalt Jesu Christi, der die Sünde der Welt trug, sondern eine gefährliche moralische Degradierung erkennt. Das freie Schuldbekenntnis ... ist der Durchbruch der Gestalt Jesu Christi in der Kirche, den die Kirche an sich geschehen läßt oder aber aufhört Kirche Christi zu sein" (132).
"[...] Nur als von Christus gerichtete kann die abgefallene Menschheit vor Christus bestehen. Unter dieses Gericht ruft die Kirche alle, die sie erreicht.
Die Kirche und der Einzelne werden als in ihrer Schuld Gerichtete, von dem gerechtfertigt, der alle menschliche Schuld auf sich nimmt und vergibt, durch Jesus Christus..."
Dies empfängt die Kirche nur "als in die Schande des Kreuzes als des öffentlichen Sündertodes hineingezogene" (133).
Allein hieraus kann Rechtfertigung und Erneuerung der Kirche und allein daraus Rechtfertigung und Erneuerung des Abendlandes erwachsen.
Die Kirche erfährt Rechtfertigung und Erneuerung direkt und konkret als "völligen Bruch mit der Schuld und einen Neuanfang", doch "für die Völker gibt es nur ein Vernarben der Schuld in der Rückkehr zur Ordnung, zum Recht, zum Frieden, zum freien Ergehenlassen der kirchlichen Verkündigung von Jesus Christus" (134). Hierbei geht es um einen "allmählichen Heilungsprozeß".
Im geschichtlich-politischen Bereich "wird ... auf die volle Sühne des geschehenen Unrechtes durch die Schuldigen Verzicht geleistet, es wird erkannt, daß das Vergangene durch keine menschliche Macht wiederhergestellt, daß das Rad der Geschichte nicht mehr zurückgedreht werden kann... Das Vergeltungsgesetz des 'Auge um Auge, Zahn um Zahn' bleibt Gott, dem Richter der Völker, vorbehalten. In den Händen der Menschen müßte es nur neues Unheil hervorbringen" (135).
Dabei muß aber die Herrschaft des Unrechts tatsächlich beendet und Frieden unter den Völkern hergestellt werden. Dabei gilt: "Wie die Schuld des Abfalls von Christus eine gemeinsame abendländische Schuld ist, ... so wird es auch nur eine gemeinsame abendländische Rechtfertigung und Erneuerung geben" (136).
Die letzten und die vorletzten Dinge
"Ursprung und Wesen alles christlichen Lebens liegen beschlossen in dem einen Geschehen, das die Reformation Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein genannt hat."
Was hier geschieht, ist "ein Letztes" - "das Wort Gottes bricht herein" in die Dunkelheit des Menschen.
"Der Mensch ist frei für Gott und den Bruder. Er wird inne, daß ein Gott ist, der ihn liebt und annimmt, daß ein Bruder neben ihm steht, den Gott liebt wie ihn selbst, daß eine Zukunft ist bei dem dreieinigen Gott mit seiner Gemeinde" (137). "Das Leben erkennt sich ausgespannt und gehalten von einem Grund der Ewigkeit zum anderen, von der Erwählung vor der Zeit der Welt bis zum ewigen Heil" (137f.). "In Christus ist dieses alles Wahrheit und Wirklichkeit, und ... darum ist das Leben des Menschen, dem die Gegenwart Christi widerfährt, von nun an nicht mehr ein verlorenes, sondern ein gerechtfertigtes Leben geworden."
"Der Glaube allein nämlich gürndet das Leben auf einen neuen Grund und dieser neue Grund allein rechtfertigt es, daß ich vor Gott leben kann. Der Grund aber ist das Leben, Sterben und Auferstehen des Herrn Jesus Christus."
Hierbei geht es um eine "Begründung des Lebens auf einem Grund außerhalb meiner selbst", ich darf "herausgerissen sein aus der Gefangenschaft im eigenen Ich... Glauben ist ein Geschehenlassen und erst in ihm ein Tun" (138). "Glaube allein ist Gewißheit".
Doch darf der Glaube nicht allein stehen bleiben:
"Es wäre ein falscher Glaube, ein Scheinglaube, ... der niemals rechtfertigt, wenn Liebe und Hoffnung nicht bei ihm wäre. Es wäre eine angelernte Wiederholung von Glaubenssätzen, toter Glaube, der nicht die Werke der Buße und der Liebe bei sich hätte."
Ein so gerechtfertigter Mensch "verlor sein eigenes Leben an Christus, nun wurde Christus sein Leben... (Gal 2,20). Christliches Leben ist Christusleben" (139).
Die oben erwähnte "Letztlichkeit" dieses Tatbestandes ist "qualitativ" ein "letztes Wort":
"Es gibt kein Wort Gottes, das über seine Gnade hinausgeht. Mehr als ein von Gott gerechtfertigtes Leben gibt es nicht. Weil es den vollständigen Abbruch alles Bisherigen, Vorletzten enthält, ... darum ist es unumkehrbar letztes Wort, letzte Wirklichkeit. Es schließt also jede Methode aus, es auf dem eigenen Wege zu erreichen" (140).
Dies heißt, daß ich nicht erst den Weg der Ehebrecherin oder des Schächers am Kreuz, den Weg des Paulus oder Luthers nachschreiten muß, um zu diesem Letzten zu gelangen. "Das qualitativ letzte Wort schließt ein für allemal jede Methode aus." Zur Gleichgestaltung mit Christus "führt keine Methode, sondern der Glaube allein. Anders verlöre das Evangelium seinen Preis, seinen Wert. Die teure Gnade würde billig."
"Das rechtfertigende Wort Gottes ist aber auch zeitlich letztes Wort. Es geht ihm immer etwas Vorletztes voraus, ... eine Spanne Zeit, an deren Ende es steht. Gerechtfertigt kann nur werden, was bereits in der Zeit unter eine Anklage geraten ist. Es setzt ein Schuldigwerden des Geschöpfes voraus" (141).
Dabei ist dann "das letzte Wort nicht die Krönung, sondern der vollständige Abbruch des Vorletzten... Das Vorletzte bleibt also bestehen, obwohl es durch das Letzte gänzlich aufgehoben und außer Kraft gesetzt wird."
"Das Wort bleibt unumkehrbar das Letzte, es würde sonst zum Berechenbaren, zur Ware herabgewürdigt und damit seines göttlichen Wesens beraubt. Die Gnade würde billig. Sie wäre kein Geschenk."
Doch in bezug darauf "muß nun auch von den vorletzten Dingen gesprochen werden, nicht so als hätten sie irgendeinen eigenen Wert, aber so daß ihre Beziehung auf das Letzte sichtbar wird" (142).
Dies wird z.B. im Leben der christlichen Gemeinde und besonders in der Seelsorge konkret: Oft ist es besser, einem Menschen, der z.B. den Verlust eines lieben Menschen verkraften muß, nicht gleich die letztgültigen Worte der Bibel an den Kopf zu werfen, sondern erst einmal mit ihm zu schweigen. Dieses "bewußte Bleiben im Vorletzten" kann "vielleicht der echtere Hinweis auf das Letzte, das Gott zu seiner Zeit selbst (freilich auch nur durch Menschenmund) sagt", sein.
Bei der Unterscheidung zwischen Letztem und Vorletztem gibt es eine radikale Lösung und eine Kompromißlösung.
Die radikale Lösung verwirft alles Vorletzte dieser Welt dem Gericht und betont einzig und allein die Letztgültigkeit Christi. "Aus dem letzten Wort Gottes, das ein Gnadenwort ist, wird hier die eisige Härte des allen Widerstand zerbrechenden und verachtenden Gesetzes..."
Die Kompromißlösung trennt Vorletztes und Letztes, wobei das Vorletzte im Vordergrund steht. "Das Letzte bleibt gänzlich jenseits des täglichen und dient schließlich als ewige Rechtfertigung für alles Bestehende... Aus dem freien Gnadenwort wird ein Gnadengesetz, das über allem Vorletzten es rechtfertigend und bewahrend waltet." (145).
Beide Lösungen sehen Letztes und Vorletztes im Gegensatz und verabsolutieren eines von beiden; "... so wird die Einheit Gottes selbst aufgelöst, der Glaube an Gott zerbricht." Gegenüber solchen Gegensätzen und Verabsolutierungen gilt "alleiin die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit des Menschen, die in Jesus Christus eins geworden ist.
"Radikalismus entspringt immer einem bewußten oder unbewußten Haß gegen das Bestehende", der letztlich "Haß gegen die Schöpfung" ist (146). Dabei wird "aus der Liebe die die Welt gerade in ihrem Bösen mit der Liebe Gottes liebt (Joh 3,16), wird die pharisäische Verweigerung der Liebe zu den Bösen in ihrer Bechränkung auf den geschlossenen Kreis der Frommen."
"Der Kompromiß entsprint immer dem Haß gegen das Letzte. Christlicher Kompromißgeist kommt aus diesem Haß gegen die Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein" (147).
Zusammenfassend kann gesagt werden: "Der Radikalismus haßt das Wirkliche, der Kompromiß haßt das Wort." Dabei werden die von beiden Positionen aufgebauten Gegensätze in Christus eins:
"Die Frage nach dem christlichen Leben wird also weder vom Radikalismus noch vom Kompromiß, sondern von Jesus Christus selbst entschieden und beantwortet. Nur in ihm löst sich das Verhältnis von Letztem und Vorletztem" (148).
"[...] In der Menschwerdung erkennen wir die Liebe Gottes zu seiner Kreatur, in der Kreuzigung das Gericht Gottes über alles Fleisch, in der Auferstehung den Willen Gottes zu einer neuen Welt. Nichts wäre nun verkehrter als diese drei Stücke auseinanderzureißen... Eine allein auf der Menschwerdung aufgebaute Ethik würde leicht zu der Kompromißlösung führen, eine allein auf Kreuz oder Auferstehung Jesu Christi aufgebaute Ethik würde dem Radikalismus und der Schwärmerei verfallen. Nur in der Einheit löst sich der Widerstreit" (149).
In Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi sind Annahme, Gericht und Erneuerung des Menschen Wirklichkeit geworden.
"Christliches Leben heißt Menschsein inkraft der Menschwerdung, heißt gerichtet und begnadigt sein inkraft des Kreuzes, heißt ein neues Leben leben in der Kraft der Auferstehung. Eines ist nicht ohne das andere" (150).
Die Begegnung der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit der Welt in Christus "ist eine Begegnung jenseits jedes Radikalismus und jedes Kompromisses. Christliches Leben ist Teilnahme an der Christusbegegnung mit der Welt."
Nun kann vom Letzten her das Vorletzte genauer betrachtet werden:
"Das Vorletzte ist ... nicht Bedingung des Letzten, sondern das Letzte bedingt das Vorletzte. Das Vorletzte ist also nicht ein Zustand an sich, sondern ein Urteil des Letzten über das ihm Vorangegangene... Konkret wird von der Rechtfertigung des Sünders her ein zweifaches als Vorletztes angesprochen: das Menschsein und das Gutsein" (151).
Das Wesen des Menschseins "wird erst vom Letzten her erkennbar" (151f.); von daher kann es "als Vorletztes für die Rechtfertigung aus Gnaden angesprochen werden."
Die Konsequenz daraus ist:
"Das Vorletzte muß um des Letzten willen gewahrt bleiben... Konkret: Der Sklave, dem die Verfügung über seine Zeit soweit genommen ist, daß er die Verkündigung des Wortes Gottes nicht mehr hören kann, kann durch dieses Wort Gottes jedenfalls nicht zum rechtfertigenden Glauben geführt werden" (152).
In bezug auf das Vorletzte geht es immer um "Wegbereitung für das Wort".
"Zwar bahnt sich Christus, wenn er kommt, seinen eigenen Weg... Damit aber die Gewalt seines Kommens die Menschen nicht im Zorne niederschlage, sondern sie als die demütig wartenden treffe, darum geht dem Einzug der Ruf zur Wegbereitung voran."
"Unfreiheit", "Macht" (153), "Reichtum", "Schuld" oder "Trotz" können "das Kommen der Gnade besonders schwer" machen. "Sein Kommen kann niemand hindern, aber seinem Kommen in Gnade können wir uns entgegenstellen." Wir können zwar keinesfalls "die Gnade ... herbeizwingen". "
Aber dies alles entbindet uns nicht davon, dem Kommen der Gnade den Weg zu bereiten, wegzutun, was es hindert und erschwert... Wir können es uns und anderen schwer machen, zum Glauben zu kommen" (154).
[...] "Wenn der Hungernde nicht zum Glauben kommt, so fällt die Schuld auf die, die ihm das Brot verweigerten..."
Es ist etwas Vorletztes, was hier geschieht... Dem Hungernden Brot geben, heißt noch nicht ihm die Gnade Gottes und die Rechtfertigung verkündigen und Brot empfangen haben heißt noch nicht im Glauben stehen. ABer für den, der es um des Letzten willen tut, steht dieses Vorletzte in Beziehung zum Letzten. es ist ein Vor-Letztes" (155).
"Wir ... müssen von der Wegbereitung, vom Vorletzten sprechen um derer willen, die mit ihrem Radikalismus, der die vorletzten Dinge leugnete, gescheitert sind ...; auch um derer willen, die in den vorletzten Dingen stecken blieben und sich darin zufrieden gaben".
Das angesprochene diakonische Handeln als etwas Vorletztes ist aber nicht als Bedingung dafür zu verstehen, daß jemand zum Glauben kommen kann. Vielmehr ist "dieses Handeln" als "geistliche Wirklichkeit" zu verstehen, "weil es ja zuletzt nicht um eine Reform der weltlichen Zustände, sondern um das Kommen Christi geht. Nur einer geistlichen Wegbereitung wird das gnädige Kommen des Herrn folgen" (156f.). Daher müssen "die sichtbaren Taten ... Taten der Buße sein". "Wegbereitung heißt Buße (Matth 3,1ff). Buße aber heißt konkrete Umkehr, Buße fordert die Tat."
In dieser Perspektive kann nun versucht werden, das Menschsein und das Gute zu definieren:
"Was also Menschsein und Gutsein ist, das läßt sich nur von dem kommenden und gekommenen Herrn her wissen. Weil Christus kommt, darum sollen wir Menschen sein und sollen wir gut sein" (157).
"Von Christus her wird die gefallene Welt verständlich als von Gott für das Kommen Christi aufbewahrte, erhaltene Welt, in der wir als Menschen in gegebenen Ordnungen 'gut' leben können und sollen."
Durch Mißachtung des Menschseins und seiner Ordnungen "zerstört die Welt sich selbst".
Wegbereitung bedeutet auch, daß die Möglichkeit geschaffen werden muß, das Wort Gottes zu hören (Röm 10,17): "Soll also das Wort zu mir kommen können, so ist der letzte Akt der Wegbereitung, die letzte Tat des Vorletztten, daß ich dorthin gehe, wo es Gott gefallen hat, sein Wort zu geben" (158).
Nocheinmal betont Bonhoeffer, "daß wir slbst gerade niemals den Weg bereiten können" sondern nur in der Haltung der Buße beten können: "'ach mache du mich ARmen, zu dieser heilgen Zeit aus Güte und Erbarmen, Her Jesu, selbst bereit'." Daher kann es auch keine "Methode" der Wegbereitung geben: "Methode ist Weg vom Vorletzten zum Letzten, Wegbereitung ist Weg vom Letzten zum Vorletzten" (159). Dies muß Christus in uns wirken: "Christliches Leben ist der Anbruch des Letzten in mir, das Leben Jesu Christi in mir. Es ist aber immer auch Leben im Vorletzten, das auf das Letzte wartet" (160).
In "der abendländischen Christenheit" ist durch "die Infragestellung des Letzten" in den letzten 200 Jahren auch das Vorletzte bedroht, was wiederum zu einer noch stärkeren "Mißachtung ... des Letzten" führt. "Hier gilt es also durch betonte Verkündigung des Letzten das Vorletzte zu stärken wie auch durch Wahrung des Vorletzten das Letzte zu schützen." Das bedeutet, "dieses Vorletzte vom Letzten her noch einmal in Anspruch zu nehmen. Was an Menschlichem und Gutemin der gefallenen Welt gefunden wird, es gehört auf die Seite Jesu Christi" (161).
"Nicht soll das Menschliche und Gute für sich einen Wert bekommen, sondern es soll und darf für Jesus Christus in Anspruch genommen werden, besonders dort, wo es als unbewußter Rest einer vormaligen Bindung an das Letzte dasteht" (162).
Das natürliche Leben
"Der Begriff des Natürlichen ist in der evangelischen Ethik in Mißkredit geraten. Bei den einen ging er vollständig im Dunkel der allgemeinen Sündhaftigkeit verloren, bei den anderen erhielt er umgekehrt den Glanz der Urgeschöpflichkeit. Beides war ein böser Mißbrauch" (163).
Dies hatte zur Folge, daß "man nun den praktischen Fragen des natürlichen Lebens mehr oder weniger orientierungslos gegenüberstand." Gegenüber der göttlichen Gnade wurde alles Menschlich-Natürliche als sündhaft und damit als bedeutungslos angesehen. Damit "war der Weg für jede Willkür und Unordnung frei, dann stand das natürliche Leben in seinen konkreten Entscheidungen und Ordnungen nicht mehr in der Verantwortung vor Gott" (164).
"So muß also der Begriff des Natürlichen vom Evangelium her wiedergewonnen werden. Wir sprechen vom Natürlichen im Unterschied zum Geschöpflichen, um die Tatsache des Sündenfalls mit einzuschließen, wir sprechen vom Natürlichen im Unterschied zum Sündhaften, umd das Geschöpfliche mit einzuschließen. Das Natürliche ist das nach dem Fall auf das Kommen Jesu Christi hin Ausgerichtete. Das Unnatürliche ist das nach dem Fall dem Kommen Jesu Christi sich verschließende."
Doch "in beiden Fällen ist das wirkliche Kommen ein Geschehen der Gnade".
"Der Begriff des Natürlichen ... enthält im Unterschied vom Kreatürlichen ... ein Moment der Eigenständigkeit, der Eigenentwicklung... Durch den Fall wird die 'Kreatur' zur 'Natur'. Aus der Gottunmittelbarkeit der wahren Kreatur wird die relative Freiheit des natürlichen Lebens. Innerhalb dieser Freiheit gibt es den Unterschied des rechten und des verfehlten Gebrauches der Freiheit ..., ... also das relative Offensein und das relative Verschlossensein für Christus."
"Das natürliche Leben ... empfängt seine Bestätigung erst durch Christus selbst".
"Formal ist das Natürliche bestimmt durch den Erhaltungswillen Gottes und die Ausrichtung auf Christus... Die inhaltliche Bestimmung des Natürlichen ist die Gestalt des erhaltenden Lebens selbst wie sie das ganze Menschengeschlecht umfaßt. Nach dieser inhaltlichen Seite nun ist die Vernunft des Menschen das Organ der Erkenntnis des Natürlichen... Natürliches und Vernunft verhalten sich zueinander wie Seins- und Bewußtseinsgestaltung des erhaltenen Lebens" (166f.).
Dabei steht die Vernunft unter der "Tatsache des Sündenfalls". "... sie ist nun gefallene Vernunft, die nur das Gegebene der gefallenen Welt vernimmt, und zwar ausschließlich nach seiner inhaltlichen Seite.
"Von der katholischen Theorie unterscheidet sich das Gesagte dadurch, daß von uns 1.) die Vernunft als in vollem Umfange mit im Sündenfall verstrickt aufgefaßt ist, während sie in der katholischen Dogmatik eine wesentliche Integrität bewahrt hat., 2. [sic] daß die Vernunft nach katholischer lehre auch die formale Bestimmtheit des Natürlichen zu erfassen vermag, was wiederum mit dem ersten Punkt zusammenhängt. Von der Aufklärung unterscheidet sich das Gesagte durch die Begründung des Natürlichen im objektiv Gegebenen statt in der subjektiven Spontaneität der Vernunft" (167 Anm.1).
Da das Natürliche gegeben ist, kann also nicht ein Einzelner oder eine Gemeinschaft das Natürliche willkürlich setzen - dies führt zum Zerbruch am Natürlichen und zur Selbstzerstörung. Das Natürliche wird durch die Vernunft erkannt und "durch den 'Grundwillen' des erhaltenen Lebens" bejaht. Da dieser Grundwille ebenso wie die Vernunft "in den Sündenfall und in die erhaltene Welt ... eingebettet" ist (168), "richtet auch er sich ausschließlich auf die inhaltliche Seite des Natürlichen und bejaht sie".
"Zerstörung des Natürlichen bedeutet Zerstörung des Lebens... Das Unnatürliche ist lebensfeindlich."
Wenn die relative Freiheit des Natürlichen (s.o.) mißbraucht wird, "setzt sich ein Gegebenes innerhalb der gefallenen Welt absolut, erklärt sich als Quelle des Natürlichen und zersetzt damit das natürliche Leben" (169). "... das Unnatürliche besteht wesentlich in der Organisation, während das Natürliche sich nicht organisieren läßt sondern einfach da ist" (169f.). Deshalb kann es auf lange Sicht nur "zu einer vorübergehenden Überwältigung des Natürlichen durch das Unnatürliche kommen" (170).
Das natürliche Leben
"Natürliches Leben ist gestaltetes Leben. Das Natürliche ist dem Leben selbst innewohnende und dienende Gestalt." Wird das Leben im Sinne eines "Vitalismus" als "Selbstzweck" betrachtet, führt dies zum "Zerbrechen alles Natürlichen", denn: "Gott will das Leben und er gibt dem Leben eine Gestalt, in der es laben kann, weil es sich selbst überlassen sich nur vernichten kann. Diese Gestalt stellt das Leben aber zugleich in den Dienst anderen Lebens und der Welt" (171). Wird jedoch das Leben nur noch als Mittel und Zweck angesehen und "der Einzelne nur noch in seinem Nutzwert für das Ganze und die Gemeinschaft" gesehen, dann wird "das einzelne und gemeinschaftliche Leben in einem totalen Mechanisierungsprozeß geopfert" (172). Demgegenüber ist festzustellen:
"Das natürliche Leben steht zwischen den Extremen des Vitalismus und der Mechanisierung, es ist zugleich Leben als Selbstzweck und als Mittel zum Zweck. Während von Jesus Christus her die Selbstzwecklichkeit des Lebens als Geschöpflichkeit und das Leben als Mittel zum Zweck als Teilnahme am Gottesreich verstanden wird, findet im Rahmen des natürlichen Lebens die Selbstzwecklichkeit ihren Ausdruck in den Rechten und das Leben als Mittel zum Zweck seinen Ausdruck in den Pflichten, die dem Leben gegeben sind. So muß um Christi und seines Kommens willen das natürliche Leben in bestimmten Rechten und bestimmten Pflichten gelebt werden."
Im Gegensatz zu Kant muß von auch in einer christlichen Ethik "der heiligen Schrift" her "zuerst von den Rechten des natürlichen Lebens gesprochen werden, das heißt von dem, was dem Leben gegeben ist und erst dann von dem was von ihm gefordert wird. Gott gibt, bevor er fordert" (173).
"Die Rechte des natürlichen Lebens sind der Abglanz der Schöpferherrlichkeit Gottes mitten in der gefallenen Welt... Die Pflichten aber entspringen aus den Rechten selbst, wie die Aufgaben aus den Gaben... Indem wir also im Rahmen des natürlichen Lebens jeweils zuerst von den Rechten und dann von den Pflichten sprechen, geben wir dem Evangelium im natürlichen Leben Raum."
Suum cuique
"In diesem Satz kommt in gleicher Weise die Mannigfaltigkeit des Natürlichen und der ihm zugehörigen Rechte wie die in der Mannigfaltigkeit gewahrte Einheit des Rechtes zum Ausdruck" (174).
"Das 'Seine', das einem Jeden zugehört, ist zugleich ein jeweils Verschiedenes, Ungleiches (aber eben nicht Willkürliches!) und doch in dem Natürlich Gegebenen objektiv Begründetes und darum Allgemeines (aber eben nicht Abstrakt-Formales).
"[...] Das suum cuique anerkennt die Priorität der im Natürlichen gegebenen Rechte vor allem positiven Recht" (175).
Die natürlichen Rechte des Einzelnen sind dabei begrenzt durch die Beachtung der natürlichen Rechte des anderen. Der "Widerstreit", der dadurch entstehen kann, "fordert das positiv, das heißt von außerhalb der Natur gesetzte Recht und zwar als göttliches und weltliches positives Recht." Doch:
"Diese Grenze des suum cuique hebt ... seine relative Richtigkeit nicht auf. Wo das Recht im Natürlich Gegebenen gesucht wird, dort wird der Wille und die Gabe des Schöpfers geehrt... So darf die Wahrung dieses Satzes ... als Vorletztes, das vom Letzten her bestimmt ist, angesprochen werden" (176).
Denn: "Daß es ein natürliches Recht des Einzelnen gibt, folgt aus dem Willen Gottes, den Einzelnen zu schaffen und ihm das ewige Leben zu schenken" (177).
Hierbei taucht immer wieder "die Frage nach dem Garanten dieser Rechte" auf. Dieser Garant ist "Gott selbst... Er bedient sich aber dazu immer wieder des Lebens selbst, das sich gegen jede Vergewaltigung des Natürlichen früher oder später durchsetzt" (178).
"Die Frage, ob der Einzelne seine natürlichen Rechte verteidigen darf, ist klar zu bejahen. Ob, wie und wann er sie verteidigen soll, ist eine andere, später zu entscheidende Frage" (178f.).
In jedem Fall muß dabei deutlich werden, "daß nicht der Einzelne, sondern Gott hier für das Recht einsteht."
Das Recht auf das leibliche Leben
"Da es nach Gottes Willen menschliches Leben auf Erden nur als leibliches Leben gibt, hat der Leib um des ganzen Menschen willen das Recht auf Erhaltung. Da mit dem Tode alle Rechte erlöschen, so ist die Erhaltung des leiblichen Lebens die Grundlage aller natürlichen Rechte überhaupt."
Dabei gilt: "Das leibliche Leben ist wie das leben überhaupt sowohl Mittel zum Zweck wie Selbstzweck." Deshalb ist es "idealistisch, aber nicht christlich, den Leib ausschließlich als Mittel zum Zweck" anzusehen (179). "Dem entspricht die Auffassung des Leibes als Kerker der unsterblichen Seele".
Vielmehr "kommt der Leiblichkeit, die von Gott gewollt ist als Existenzform des Menschen, Selbstzwecklichkeit zu"; dabei kann der Leib durchaus "zugleich einem höheren Zweck untergeordnet" bleiben. Zur Leiblichkeit gehören die "Probleme des Wohnens, der Ernährung, der Kleidung, der Erholung, des Spieles, der Geschlechtlichkeit. Kommt aber dem Leib eine Selbstzwecklichkeit zu, so gibt es ein Recht auf leibliche Freuden, ohne daß diese ohne weiteres einem höheren Zweck untergeordnet werden müßten" (180). "Die Freuden des Leibes sind innerhalb des natürlichen Lebens der Hinweis auf die ewige Freude, die dem Menschen bei Gott verheißen ist" (180f.). Biblische Belege: Koh 9,7ff.; 11,9; 2,25).
Dabei ist die "Wohnung des Menschen" nicht nur zweckorientiert "wie der tierische Unterschlupf ..., sondern sie ist der Raum, in dem der Mensch die Freuden eines persönlichen Lebens in der Geborgenheit der Seinen und seines Eigentums genießen darf" (181). Dies läßt sich auch für die anderen genannten Aspekte der Leiblichkeit zeigen. Bei all dem wird deutlich, "daß der Sinn des leiblichen Lebens niemals in seiner Zweckbestimmtheit aufgeht, sondern erst in der Erfüllung des ihm innewohnenden Anspruchs auf Freude erschöpft wird."
"Der Leib ist jeweils 'mein' Leib... Die Antastung meines Leibes ist ein Eingriff in meine persönliche Existenz." "Ehrerbietung" gegenüber einem anderen "drückt sich in einer klar gewahrten Distanz zu seinem leiblichen Leben aus" (182). Nur bei noch unselbständigen Kindern kann daher "körperliche Züchtigung" zur Erziehung zur Selbständigkeit angewandt werden.
In jedem Fall "bedeutet eine bewußte Antastung des fremden Leibes die Zerstörung des ersten natürlichen Rechtes des Menschen", das "in der Bewahrung des leiblichen Lebens vor willkürlicher Tötung" besteht. Als Willkürliche Tötung gilt "nicht die Tötung des Feindes im Kriege", auch "nicht die Tötung des Verbrechers, der fremdes Leben antastete" (183) und "nicht die Tötung von Zivilpersonen im Krieg, sofern sie nicht direkt beabsichtigt ... ist." Doch: "Willkürlich ist die Tötung eines unschuldigen Menschen aus Leidenschaft oder um irgendeines Vorteils willen. Willkürlich ist jede bewußte Tötung unschuldigen Lebens."
Hiermit ist das Problem der "Euthanasie" (184) angesprochen. "Eine doppelte Motivierung liegt dieser Frage zugrunde: die Rücksicht auf den Kranken und die Rücksicht auf die Gesunden."
Dabei ist "grundsätzlich festzustellen, daß die Entscheidung über das Recht der Tötung menschlichen Lebens niemals aus einer Summe von Gründen getroffen werden kann... Tötung fremden Lebens kann es nur geben aufgrund einer unbedingten Notwendigkeit... Wo es auch nur die geringste verantwortliche Möglichkeit gibt, dem andern das Leben zu lassen, wäre Vernichtung des Lebens willkürliche Tötung, Mord... Wo dies nicht bedacht wird, fällt man dem Schöpfer und Erhalter des Lebens selbst in den Arm" (185).
Zur Frage der Tötung aus "Rücksicht auf den unheilbar Kranken":
Diese muß zuallererst "die Einwilligung beziehungsweise den Wunsch des Kranken voraussetzen". Wenn der Kranke diesen nicht artikulieren kann, ist er nicht einfach vorauszusetzen. "Wer ... vermag zu ermessen, wie stark selbst der unheilbar Geisteskranke trotz seines Leidens am Leben hängt"? Bei einem schwer Depressiven darf man nicht übersehen, "daß es sich hier um die Bitte eines Kranken handelt, der über sich selbst nicht Herr ist". Doch auch wenn "ein unheilbar Kranker ... in die Beendigung seines Lebens" einwilligt, ist dies keine "zwingende Forderung für die Anwendung der Euthanasie ..., so lange das Leben des Kranken noch seine eigenen Forderungen stellt, solange also der Arzt nicht nur dem Willen, sondern eben auch dem Leben des Kranken noch verpflichtet ist" (186).
Im Blick auf die künstliche Verlängerung des Lebens ist der "Unterschied festzuhalten, der zwischen Sterbenlassen und Töten besteht."
"Es ergibt sich somit, daß die Rücksicht auf den Kranken nicht als zureichender Grund für die Notwendigkeit der Tötung menschlichen Lebens gelten kann."
"Macht nun die Rücksicht auf die Gesunden die Tötung unschuldigen Lebens notwendig? Voraussetzung der bejahenden Beantwortung dieser Frage ist die Auffassung, daß jedes Leben einen bestimmten Nutzwert für die Gemeinschaft haben müsse". Dies läßt sich schon deshalb nicht aufrechterhalten, da eine unterschiedliche "Bewertung von social Wertvollen und social Wertlosen ... im Leben ... unmögliche Folgen haben würde" (187).
Gerade wenn sich "der Starke für den Schwachen, der Gesunde für den Kranken" einsetzt, wird ihn "die Not des Schwachen ... zu neuen Aufgaben, zur Entfaltung seines socialen Wertes führen... Die Idee, ein Leben, das seinen socialen Nutzwert verloren hat, zu vernichten, entspringt der Schwäche, nicht der Stärke."
"Daß das von Gott geschaffene und erhaltene Leben ein ihm innewohnendes Recht besitzt, das von dem socialen Nutzwert dieses Lebens gänzlich unabhängig ist, ist hier übersehen... Es gibt vor Gott kein lebensunwertes Leben; denn das Leben selbst ist von Gott wertgehalten... Der arme Lazarus, ... jener Mann ohne jeden socialen Nutzwert, ... wird von Gott des ewigen Lebens wertgeachtet" (188).
Eine subjektive Beurteilung des Lebenswertes durch einen Einzelnen oder eine Gemeinschaft führt zur "Willkür".
"Wir kommen ja um die Tatsache nicht herum, daß gerade dieses sogenannte lebensunwerte Leben unheilbar Kranker bei den Gesunden, bei Ärzten, Pflegern, Verwandten das höchste Maß socialer Opferbereitschaft und wahrsten Heldentums auslöst und daß aus solcher Hingabe gesunden Lebens an krankes Leben höchst reale Nutzwerte für die Gemeinschaft hervorgegangen sind."
Zur "Gefährdung" der "Gemeinschaft" durch "schwere unheilbare erbliche Krankheiten":
"Die Internierung solcher Kranker ist vom gesundheitlichen Standpunkt aus ein ausreichendes Mittel" (189).
In wirtschaftlicher Hinsicht gilt: "Noch nie haben die Ausgaben eines Volkes für die Pflege derartiger Kranker auch nur im entferntesten die Ausgaben für Luxusartikel erreicht." Außerdem ist jedem mehr oder weniger einsichtig, daß er selbst einmal auf entsprechende Krankenversorgung angewiesen sein könnte.
Bei solchen Krankheiten handelt es sich nicht um einen "Angriff auf den Bestand der Gemeinschaft", der eine Tötung rechtfertigt, denn: "erstens kann dieser Angriff durch andere Mittel als durch Vernichtung des Lebens abgewehrt werden. Zweitens handelt es sich im Fall der Erbkranken um unschuldiges Leben."
Auch "bei Fällen angeborener Idiotie" handelt es sich um "von Menschen geborenes, krankes Leben, das ja nichts anderes sein kann als, freilich höchst unglückliches, menschliches Leben" (190).
Außerdem hat die "These von der Zulässigkeit der Tötung unschuldigen kranken Lebens zugunsten der Gesunden ... weltanschauliche Wurzeln. Es soll hier der übermenschliche Versuch gemacht werden, die menschliche Gemeinschaft von sinnlos erscheinender Krankheit zu befreien." Damit wird "ein Kampf ... mit dem Wesen der gefallenen Welt selbst aufgenommen." Und die Betrachtung der "Gesundheit" als höchster Wert ist eine "Rationalisierung und Biologisierung des menschlichen Lebens".
"Kommen wir also zu dem Ergebnis, daß auch die Rücksicht auf die Gesunden kein Recht zur vorsätzlichen Tötung unschuldigen kranken Lebens gibt, so ist damit die Frage der Euthanasie negativ entschieden. Die heilige Schrift faßt dieses Urteil in dem Satz zusammen: 'Den Unschuldigen .. sollst du nicht erwürgen' (Ex 23,7)" (191).
Der Selbstmord
"Nur weil der Mensch frei ist zum Tode, kann er sein leibliches Leben um eines höheren Gutes willen hingeben. Ohne die Freiheit zum Lebensopfer im Tode gäbe es keine Freiheit für Gott, gäbe es kein menschliches Leben." Dies gilt jedoch nur, wenn "nicht die Vernichtung des eigenen Lebens, sondern das im Opfer erstrebte Gut Ziel des Lebenseinsatzes ist."
Diese Freiheit kann auch folgende Konsequenz haben: "Patet exitus - das ist die Proklamation der menschlichen Freiheit gegenüber dem Leben" (192). Im Gebrauch dieser Freiheit kann der Mensch noch ein letztes Mal sein Menschsein zu beweisen versuchen: "Der Selbstmord ist die letzte und äußerste Selbstrechtfertigung des Menschen als Menschen ... Nicht die Verzweiflung ... ist selbst der eigentliche Urheber des Selbstmordes, sondern die Freiheit des Menschen". Hier besteht die "Bejahung des Lebens noch nur [sic] in seiner Vernichtung" (193).
Die "Verwerflichkeit des Selbstmordes" kann aber nicht moralisch begründet werden, sondern: "Schuldig wird der Selbstmörder allein vor Gott, dem Schöpfer und Herrn über sein Leben." Der Selbstmord ist "Sünde des Unglaubens", denn: "Der Unglaube ... rechnet im Guten wie im Schlechten nicht mit dem lebendigen Gott. Das ist Sünde." Ferner übersieht er, "daß auch der Selbstmord ihn aus der Hand Gottes, der ihm sein Schicksal bereitet hat, nicht freigibt."
Zur moralischen Verurteilung des Selbstmörders: "Die Gesellschaft mag den Selbstmord unter Strafe stellen (England ...); dem Täter selbst gegenüber wird sie ein zwingendes Recht auf sein Leben nicht glaubwürdig machen können." Auch das verbreitete kirchliche Argument zieht nicht, "daß der Selbstmord die Reue und darum die Vergebung unmöglich mache", da dieses Problem auch beim "jähen Tod" besteht.
"Gott, der Schöpfer und Herr des Lebens, nimmt das Recht des Lebens selbst wahr. Der Mensch braucht nicht Hand an sich zu legen, um sein Leben zu rechtfertigen." Es gibt kein ausdrückliches biblisches Verbot, doch schildert die Bibel den Selbstmord "immer wieder nur als die Folge schwerster Sünde ..., so bei den Verrätern Ahitophel und Judas (195f.). Dem Selbstmordgefährdeten hilft auch kein Verbot, sondern nur "der Gnaden- und Bußruf an den Verzweifelten" von Gott her.
"Der Mensch soll sein irdisches Leben, auch dort wo es ihm zu Qual wird, ganz in Gottes Hand geben, aus der es gekommen ist und sich nicht durch Selbsthilfe zu befreien trachten" (196).
Doch ist festzuhalten: "Allein wo ausschließlich und bewußt in Rücksicht auf die eigene Person gehandelt wird, wird Selbsttötung zum Selbstmord. Wer aber wollte über diese Ausschließlichkeit und Bewußtheit mit Gewißheit etwas zu sagen wagen?" Beispiel: Selbsttötung, um zu vermeiden, unter Folter Menschen zu verraten. (197).
Nochmals zur Sünde des Unglaubens: "Daß Gott auch einem gescheiterten Leben wieder Sinn und Recht geben kann, ja daß gerade durch Scheitern hindurch ein leben erst zu seiner eigentlichen Erfüllung kommen kann, das wird hier nicht geglaubt" (198). Daher ist festzuhalten, "daß der Selbstmord ... vor einer atheistischen Ethik wohl bestehen kann. Das Recht des Selbstmordes zerbricht allein an dem lebendigen Gott."
Es gibt auch eine christliche Versuchung zum Selbstmord, die aus der Verzweiflung über die eigene Unvollkommenheit erwächst (Verweis auf Luther). "... allein der Trost der Gnade Gottes und die Macht brüderlichen Gebetes kann in solcher Anfechtung helfen" (199).
Fortpflanzung und werdendes Leben
"In dem Recht auf Erhaltung des leiblichen Lebens ist das Recht auf Fortpflanzung eingeschlossen" (199). Beim Menschen ist dies "der Trieb zur Fortpflanzung ... als bewußter Wille zum eigenen Kind", und daher "kommt dem Menschen als Person auch ein Recht persönlicher Wahl des Ehegatten zu... In dieser eigenen Wahl vollzieht dann der Mensch zugleich seine gattungsmäßige Bestimmung der Fortpflanzung" (200). Hier geht es nicht um eine rein wirtschaftliche, religiöse, gesellschaftliche oder "völkische" Verpflichtung, da "der Wille zum eigenen Kind beziehungsweise die freie Wahl des Gatten, und das heißt die menschliche Ehe die älteste aller menschlichen Ordnungen ist und daher durch jene nicht bedingt werden kann" (201). Daher kann es bei der Wahl des Ehepartners auch keine konfessionelle Beschränkung geben. Eine solche "raubt der Ehe ihren wesentlich natürlichen Charakter" (201f.).
"Ehen werden weder durch die Kirche noch durch den Staat geschlossen", sondern "vielmehr durch die beiden Ehegatten." Eheschließung vor Staat und Kirche "bedeutet nichts als die öffentliche staatliche und kirchliche Anerkennung der Ehe ... Das ist lutherische Lehre" (202).
Dennoch bestehende staatliche Beschränkungen sollen nur "darauf auf aufmerksam machen, daß die natürlichen Hemmungen und die natürliche Wahl keine ausreichende Garantien dafür geboten haben, daß nicht durch Verirrungen und Verfehlungen verhängnisvolle Schädigungen der Gemeinschaft eintraten. Das Natürliche erfährt hier seine Begrenzung durch das positive staatliche Recht."
"Mit der Eheschließung ist die Anerkennung des Rechtes des werdenden Lebens verbunden, als eines Rechtes, das nicht in der Verfügung der Eheleute steht... Die Tötung der Frucht im Mutterleib ist Verletzung des dem werdenden Leben von Gott verliehenen Lebensrechtes. Die Erörterung der Frage, ob es sich hier schon um einen Menschen handele oder nicht, verwirrt nur die einfache Tatsache, daß Gott hier jedenfalls einen Menschen schaffen wollte und daß diesem werdenden Menschen vorsätzlich das Leben genommen worden ist. Das aber ist nichts anderes als Mord."
Daß es sich im Blick auf die "Motive ... um eine Tat der Verzweiflung in höchster menschlicher oder wirtschaftlicher Verlassenheit und Not" handeln kann, "dies alles berührt unzweifelhaft das persönliche, seelsorger[liche] Verhalten gegenüber dem Betroffenen ganz entscheidend, es vermag aber an dem Tatbestand des Mordes nichts zu ändern" (203f.).
"Ein Eingriff gegen das Recht werdenden Lebens liegt aber auch dort vor, wo in einer Ehe grundsätzlich die Entstehung neuen Lebens verhindert wird... Allerdings ist von der grundsätzlichen Verweigerung der Nachkommenschaft in einer Ehe wohl zu unterscheiden die konkrete, verantwortliche Geburtenregelung", denn "die verantwortliche Vernunft wird an dieser Entscheidung beteiligt sein" (204). Man könnte "in der heute weithin geübten Geburtenregelung so etwas wie eine natürliche Reaktion gegen das kaum mehr zu bewältigende Wachstum der europäischen Völker, also sozusagen eine natürliche Atempause der menschlichen Natur sehen." Dennoch stellt sich die "Frage nach dem Recht der Geburtenkontrolle selbst" (205). "Die katholische Moral kennt ... zur Erreichung dieses Zweckes prinzipiell nur ein Mittel: die völlige Enthaltsamkeit. Damit aber untergräbt [sie] die leibliche Grundlage der Ehe... Außerdem fordert sie damit für die Meisten Unerfüllbares" (206). Dabei will die "katholische Moraltheologie ... will den sekundären Zweck der Ehe, nämlich die Geschlechtsgemeinschaft, nicht in Widerspruch zu dem ersten Zwecke, der Fortpflanzung, treten lassen" (206f.). Doch sot tritt an die Stelle der "Widernatürlichkeit der Empfängnisverhütung ... die Widernatürlichkeit einer Ehe ohne leibliche Gemeinschaft ... Ferner, ob die Mitwirkung der verantwortlichen Vernunft in den Entschluß, von nun an auf Geschlechtsgemeinschaft zu verzichten, oder in die Geschlechtsgemeinschaft selbst verlegt wird, macht prinzipiell keinen Unterschied in bezug auf die Natürlichkeit der Handlung... Es wird dafür der Freiheit des sich vor Gott verantwortenden Gewissens Raum zu geben sein" (207).
Darüber hinaus gilt es "ein von dem Recht auf Fortpflanzung unterschiedenes, wenn auch wesenhaft nie gänzlich von ihm zu trennendes in der Liebe der Eheleute zueinander begründetes Recht auf volle leibliche Gemeinschaft anzuerkennen und zugleich zuzugeben, daß dieses Recht der Natur doch mit Vernunft wahrgenommen werden will" (207f.).
"Die radikalste Form der Verhütung unerwünschter Nachkommenschaft ist die freiwillige oder durch staatliches Gesetz erzwungene Sterilisation." Doch: "Der Leib des Menschen hat in sich ein Recht auf Unantastbarkeit ... Gewiß darf ich ein erkranktes Glied meines Leibes um der Erhaltung des ganzen Leibes willen amputieren lassen" (209). "Tatsächlich kommt auch die Sterilisation nur bei Krankheitsfällen in Betracht". Eine weitere Ausnahme: "Dort, wo die Stärke des menschlichen Triebes so stark ist, daß er nach gewissenhafter Selbstbeurteilung des Einzelnen das eigene und fremdes Leben gefährden würde, wird der Eingriff dre Sterilisation um der Erhaltung des ganzen Lebens willen das geringere Übel sein."
"Die staatliche erzwungene Sterilisation leitet ihr Recht aus der Notwendigkeit der Erhaltung des allgemeinen völkischen Lebens ... her. Unzweifelhaft bedeutet sie einen schweren Eingriff in das Recht des Menschen auf Unantastbarkeit seines Leibes und die Gefahr, daß dort wo diese Grenze, vielleicht in letzter Verantwortung, - einmal überschritten ist, alsbald alle Grenzen, die mit der leiblichen Unantastbarkeit des Menschen gegeben sind, ist überwältigend groß" (210).
"Dagegen lassen sich zur Verhütung unerwünschter Nachkommenschaft auch andere Wege einschlagen, etwa die Internierung des Kranken" (211).
"Die Grenze aller dieser Überlegungen ist erreicht" mit der Selbstverstümmelung nach Mt 5,29. "Von der hier verkündigten Aufhebung aller natürlichen Rechte im Glauben an das Himmelreich werden wir erst später zu sprechen haben."
Freiheit des leiblichen Lebens
"Zur Erhaltung des leiblichen Lebens gehört der Schutz vor willkürlicher Antastung [der] Freiheit des Leibes." Dazu gehören "Vergewaltigung, Ausbeutung, Peinigung, willkürliche Beraubung der Freiheit des menschlichen Leibes".
"Vergewaltigung ist der durch unrechtmäßige Gewalt erzwungene Gebrauch eines fremden Leibes zu eigenen Zwecken... Ihr gegenüber steht das Recht des Menschen, seinen Leib und insbesondere seine Geschlechtlichkeit in Freiheit zu geben oder zu versagen" (212). Erzwungene Ehen oder geschlechtliche Verbindungen verletzen "die leibliche Freiheit des Menschen" und geraten "mit jener Grundtatsache des geschlechtlichen Lebens in Konflikt, die die Grenze für jeden fremden Eingriff in natürlicher Abwehr darstellt: mit dem Schamgefühl" (212f.).
"Von Ausbeutung des menschlichen Leibes sprechen wir dort, wo die leiblichen Kräfte eines Menschen zum unbeschränkten Eigentum eines anderen Menschen oder einer Institution gemacht werden" Doch: "Es gibt historische Formen der Sklaverei die die wesentliche Freiheit des Menschen besser wahrten als gewisse sociale Einrichtungen, in denen zwar der Begriff der Sklaverei verpönt ist, in Wirklichkeit aber völlige Versklavung des als frei bezeichneten Menschen vorliegt" (213). Durch Ausbeutung "wird dem Menschen seine Leibeskraft geraubt, sein Leib wird ganz zum Objekt der Ausbeutung des Stärkeren. Die Freiheit des menschlichen Leibes ist zerstört."
"Die Peinigung des Leibes ist zu unterscheiden von der leiblichen Züchtigung, deren Ziel Erziehung des geistig Unmündigen zur Selbständigkeit ist", auch von einer "vergeltenden Strafe" (214). "Unter Peinigung des Leibes verstehen wir die willkürliche und rohe Zufügung leiblicher Schmerzen unter Ausnutzung gegebener Machtverhältnisse im allgemeinen und insbesondere zum ZUwecke der Erpressung erwünschter Geständnisse oder Aussagen" (214f.). Dabei "bedeutet jede leibliche Peinigung die tiefste Entehrung des Menschen; sie erzeugt darum einen tiefen Haß und den natürlichen leiblichen Drang die verletzte Ehre unter Anwendung leiblicher Gewalt wiederherzustellen... Insofern zerstört die Verletzung der leiblichen Freiheit des Menschen auch hier die Grundlagen der Gemeinschaft."
"Willkürliche Beraubung der Freiheit durch Gefangennahme Wehrloser und Unschuldiger" (Verweis auf die Versklavung afrikanischer Schwarzer) "oder durch Verhaftung, ist Verletzung der mit dem menschlichen Leibe gegebenen Freiheit" (215). "Wo aber dem Unschuldigen Freiheit und Ehre geraubt werden, dort muß zugleich der Schuldige straffrei und in öffentlichen Ehren bleiben. Das aber bedeutet die Untergrabung aller gemeinschaftlichen Ordnung" (216).
Die natürlichen Rechte des geistigen Lebens
"Es gibt drei fundamentale Verhaltungsweisen des geistigen Lebens zur Wirklichkeit: das Urteilen, das Handeln, das Genießen. In ihnen tritt der Mensch der Wirklichkeit, der er selbst angehört, in Freiheit gegenüber und erweist darin sein Menschsein" (216f.).
Die Geschichte und das Gute. [Erste Fassung]
"Die Abstraktion des isolierten einzelnen Menschen, der sich nach einem ihm zur Verfügung stehenden absoluten Maßstab unaufhörlich und ausschließlich zwischen einem klar erkannten Guten und einem klar erkannten Bösen zu entscheiden hat, eine Abstraktion, die das ethische Denken weithin beherrscht, haben wir nach allem Gesagten hinter uns gelassen" (218).
"Es handelt sich dabei um den Rückzug des Einzelnen aus der lebendigen Verantwortung seines geschichtlichen Daseins auf eine private Verwirklichung ethischer Ideale, in der er sein eigenes persönliches Gutsein garantiert sieht... Weil aber die ethische Isolierung des Einzelnen praktisch eine Fiktion ist, - denn keiner kann sich völlig der menschlichen Gemeinschaft entziehen und jeder lebt von ihr - darum ist dieses Verständnis des Ethischen zum Scheitern verurteilt. Es versagt angesichts der Geschichtlichkeit des Menschlichen Daseins...
... Geschichte entsteht durch das Wahrnehmen der Verantwortlichkeit für andere Menschen beziehungsweise für ganze Gemeinschaften und Gemeinschaftsgruppen... Der Familienvater zum Beispiel kann nicht mehr handeln als wäre er ein Einzelner. In sein Ich ist das Ich seiner Familienglieder aufgenommen, für die er verantwortlich ist" (219).
Wenn "ein Mensch Verantwortung für andere Menschen auf sich nimmt - und nur indem er das tut, steht er in der Wirklichkeit - entsteht die echte ethische Situation".
Das Subjekt des Handelns ist nicht mehr der isolierte Einzelne, sondern der für andere Menschen Verantwortliche; die Norm des Handelns ist nich ein allgemeingültiges Prinzip, sondern der konkrete Nächste, wie er mir von Gott gegeben ist; die Entscheidung ... wird im Glauben gewagt angesichts der Verhüllung des Guten und des Bösen in der konkreten geschichtlichen Situation.
In konkreter Verantwortung handeln heißt in Freiheit handeln, ohne Rückendeckung durch Menschen oder Prinzipien ... Es geht nicht um die Durchführung eines Prinzips, das zuletzt doch an der Wirklichkeit zerbricht, sondern um das Erfassen des in der gegebenen Situation Notwendigen, 'Gebotenen'" (220). "Das Bessere dem weniger Guten vorzuziehen weil das 'absolut Gute' gerade das Böse um so mehr hervorrufen kann, ist die oft notwendige Selbstbescheidung des verantwortlich Handelnden...
... Nicht irgenein fremdes Gesetz wird der Wirklichkeit aufgezwungen, vielmehr ist das Handeln des Verantwortlichen im tiefsten Sinne wirklichkeitsgemäß."
Doch ein mißverstandener "Begriff des 'Wirklichkeitsgemäßen'" würde zu einer "'servilen Gesinnung vor dem Faktum' (Nietzsche) führen" (221).
Wirklichkeitsgemäßheit in diesem falschverstandenen Sinne würde Verantwortungslosigkeit. Ebensowenig ... kann ein prinzipieller Widerspruch, eine prinzipielle Auflehnung gegen das Faktische im Namen irgendeiner idealen Wirklichkeit zu der echten Wirklichkeitsgemäßheit verantwortlichen Handelns führen... Anerkennung des Faktischen und Widerspruch gegen sas Faktische sind im echten wirklichkeitsgemäßen Handeln miteinander untrennbar verbunden; denn die ursprüngliche Wirlichkeit ... ist die Wirklichkeit des menschgewordenen Gottes. Alles Faktische erfährt von dieser Wirklichkeit her seine letzte Begründung und seine letzte Aufhebung, seine letzte Rechtfertigung und seinen letzten Widerspruch" (222). "Die Wirklichkeit ohne jenes göttliche Handeln in ihr und an ihr verstehen zu wollen, bedeutet in einer Abstraktion leben, an ihr vorbeileben, zwischen den Extremen der Servilität vor dem Faktischen und dem grundsätzlichen Widerspruch gegen das Faktische hin und her zu schwanken" (222f.). "Aber eben diese Welt, die in Christus gerichtet ist, ist in ihm angenommen und geliebt ... Weil in Christus die ganze menschliche Wirklichkeit aufgenommen ist, darum ist letztlich nur in ihm und von ihm aus ein wirklichkeitsgemäßes Handeln möglich.
Verantwortlich handeln bedeutet von hier aus, die menschliche Wirklichkeit, als von Gott in Christus angenommene in die Gestaltung des Handelns einzubeziehen. Die Welt hat durch Christus nicht aufgehört, Welt zu sein und jedes Handeln, das die Welt mit dem Reich Gottes verwechseln will, ist eine Verleugnung Christi und der Welt."
Hiermit wird "die Grenze dieses Handelns" deutlich (223) - es geht nicht darum, "aus der Welt das Reich Gottes zu machen, sondern ... am gegebenen Ort das sachlich - im Blick auf die Wirklichkeit - Notwendigezu tun".
"Weil Gott Mensch wurde, darum muß verantwortliches Handeln im Bereich des Menschlichen abwägen" und "auch die Folgen des Handelns ernstlich bedenken ... - weil aber Gott Mensch wurde, darum muß verantwortliches Handeln ... seine Folgen ganz an Gott ausliefern" (224). "Der Ideologe sieht sich in seiner Idee gerechtfertigt, der Verantwortliche lebt von der Gnade Gottes, in dessen Hände er sein Handeln legt.
Damit erschließt sich ihm ein tiefes Geheimnis der Geschichte überhaupt. Gerade als der in Freiheit eigenster Verantwortung Handelnde sieht er sein Handeln einmünden in und fließen aus Gottes Führung. Freie Tat, wie sie Geschichte bestimmt, erkennt sich zuletzt als Gottes Tat, reinste Aktivität als Passivität... Gott macht die maenschliche Tat in der Geschichte gut, nichts sonst. Gott fügt sie ein in seinen verborgenen Plan, auf dem er sein in Christus offenbartes Ziel der Geschichte verfolgt."
"Dieses Ziel" heißt "Christusherrschaft" (225). "Wieweit menschliches Handeln dem göttlichen Ziel der Geschichte dient und also das Gute in der Geschichte realisiert, darüber gibt es für den Menschen keine letzte Gewißheit." Er kann sich nur "mit dem Glauben an die vergebende und heilende Gnade Gottes trösten." Und: "Gott bedient sich des Guten wie des Bösen, um zu seinem Ziel zu kommen ... Durch Judas Ischarioth wird Christus zum Erlöser der Welt" (226).
"Bedeutet das die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Gut und Böse? Nein, aber es bedeutet, daß kein Mensch sich in seinem eigenen Guten rechtfertigen kann, da allein Gott das Gute tut" (226f.).
Doch "worin besteht dann das Gute im geschichtlichen Handeln des Menschen? Zunächst - formal gesprochen - in nichts anderem als daß der Mensch sein Handeln dadurch bestimmt sein läßt, daß nicht er, sondern eben allein Gott das Gute in der Geschichte vollbringt...
Gut ist das geschichtliche Handeln, das die gegebene konkrete Wirklichkeit begründet und gehalten sieht durch die Wirklichkeit der Menschwerdung Gottes...
Gut ist das geschichtliche Handeln, das aus der Mitte der Geschichte, aus dem Ereignis der Menschwerdung Gottes, die Gesetze des geschichtlichen Handelns empfängt" (227).
"Jesus Christus ist dann die einzige Quelle, aus der Erkenntnis über Wesen und Gesetz der Geschichte, wie sie von Gott her gedacht und gewollt ist, hervorgeht. ... christusgemäßes Handeln ist wirklichkeitsgemäßes Handeln."
"Zwei große Mißverständnisse" sind hier zu bedenken: "Das erste Mißverständnis sieht in Jesus Christus den Begründer einer neuen ethischen Ideologie... Das zweite Mißverständnis sieht in Jesus Christus nur den göttlichen Bejaher alles Wirklichen" (228).
"Wo eine 'Ethik Jesu', etwa in Gestalt einer so verstandenen Bergpredigt, losgelöst von dem Glauben an die Menschwerdung Gottes in Christus und an die Versöhnung der Welt mit Gott durch Christus auf den Plan tritt, dort kommt es entweder zu schwärmerisch-religiösen Ereignissen oder aber es kommt zum verzicht auf die 'Anwendung dieser Ethik' im geschichtlichen Handeln und zu einer Privatisierung der christlichen Ethik überhaupt" (228f.).
"Die Bergpredigt als das Wort des Mensch gewordenen Gottes zu begreifen und auszulegen, darum geht es, wenn die Frage nach dem geschichtlichen Handeln gestellt wird, und hier muß es sich dann bewähren, daß christusgemäßes Handeln wirklichkeitsgemäßes Handeln ist."
"Jesus Christus ist der verantwortlich Lebende schlechthin... Sein gesamtes Leben, Handeln und Leiden ist Stellvertretung. Als der Menschgewordene steht er wirklich an der Stelle aller Menschen." (230). Daraus folgt: "Verantwortliches Handeln ist stellvertretendes Handeln."
"Der Inhalt der Verantwrotung Jesu Christi für die Menschen ist Liebe, ihre Form ist Freiheit... Weil Jesus Christus die menschgewordene Liebe Gottes zu den Menschen ist", wird der Mensch "nicht zur Verwirklichung ethischer Ideale, sondern in ein Leben in der Liebe Gottes und das heißt in der Wirklichkeit gerufen." Und die Gebote "der göttlichen Gerechtigkeit... unterscheiden sich darin von allen Ideologien, daß sie in Jesus Christus mitten in der Geschichte erfüllt sind und dies in dem Wirklichwerden der Liebe Gottes in der Welt." Von dieser Wirklichkeit dürfen die Gebote nicht getrennt werden (231).
"Die Liebe, die dem wirklichen Menschen - und nicht irgendeiner Menschenidee - gilt, läßt sich durch kein Gesetz regeln, sie geschieht in der Freiheit der persönlichen Hingabe. So wird Jesus immer wieder zum Durchbrecher des Gesetzes um des 'Gesetzes' oder klarer: um der Freiheit der göttlichen Liebe willen" (231f.). "Die Liebe Gottes, mit der das Wirkliche, die Welt, geliebt wurde, im Wirklichen zu erfassen und von ihr her den Umgang mit der Wirklichkeit zu finden, ist das Wesen alles konkreten verantwortlichen Handelns." Die Liebe "ist ... in ihrem Handeln gebunden durch die Wirklichkeit der Liebe Gottes, die in Jesus Christus die Welt geliebt hat..."
"Weil es Jesus nicht um die Aufstellung und Verwirklichung neuer ethischer Ideale, also nicht um irgendein eigenes Gutsein, sondern ganz allein um Gottes Liebe zu den Menschen geht, darum kann er in die Schuld der Menschen eintreten, sich mit ihrer Schuld belasten lassen ..." (232). "Weil aber sein geschichtliches Dasein, sein Kommen ins Fleisch [seinen] einzigen Grund in Gottes Liebe zu den Menschen hat, darum ist es die Liebe Gottes die Jesus schuldig werden läßt. Aus der selbstlosen Liebe zum Menschen, aus der Sündlosigkeit heraus tritt Jesus in die Schuld der Menschen ein, nimmt er sie auf sich... In diesem sündlos schuldigen Jesus Christus hat nun jedes stellvertretend verantwortliche Handeln seinen Ursprung... Weil Jesus die Schuld aller Menschen auf sich nahm, darum wird jeder verantwortlich Handelnde schuldig. Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus der letzten Wirklichkeit der Geschichte, aus dem erlösenden Geheimnis des Schuldtragens Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt. Er stellt seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen und ist blind für die heillosere Schuld, die er gerade damit auf sich lädt..." (233).
Doch: "Frevel und ungeheuerliche Verkehrung ist es, wenn hieraus die Freigabe der bösen Tat an sich gefolgert wird." Es bleibt der "qualitative Unterschied" zwischen dem Handeln Jesu als des Sündlosen und dem Handeln des unter der Erbsünde stehenden Menschen. Doch hat "das menschliche verantwortliche Handeln ... indirekt teil an dem Handeln Jesu Christi. Es gibt hier so etwas wie eine relative Sündlosigkeit, die sich im verantwortlichen Aufnehmen der Schuld erweist."
Bei "der Frage nach dem Guten im geschichtlichen Handeln des Menschen" geht es also "nicht um das Problem der Anwendung einer sogenannten 'Ethik Jesu' auf die Geschichte", sondern "um den Anspruch Jesu Christi als [des] Menschgewordenen, auf die Geschichte, deren letzte Wirklichkeit er selbst ist" (234). "Die Worte Jesu, also zum Beispiel die Bergpredigt, sind Auslegung seiner Existenz... Sie sind göttliche Gebote für das Handeln in der Geschichte insofern als sie die in Christus erfüllte Wirklichkeit der Geschichte sind... Jeder Versuch, sie zu isolieren, ... entstellt und verzerrt sie zu einer schwachen Ideologie."
Bei der "Frage nach der Geltung der Bergpredigt im geschichtlichen handeln der Menschen" ist wiederum auf zwei "große Irrtümer" in der "Geschichte der Kirche bis zur Gegenwart" zu verweisen: "Der eine Irrtum hat seinen Ursprung in einem prinzipiellen Verständnis des Christlichen, der andere in einem prinzipiellen Verständnis des Weltlichen" (235). "In dem prinzipiellen Verständnis des Christlichen wird das Christliche isoliert und als das der Welt aufzuzwingende Gesetz aufgefaßt... Die Erfahrung des Scheiterns aller derartiger Versuche an der wirklichen Welt führt dazu, nun das bisher übersehene Weltliche prinzipiell zu verstehen", wodurch eine "Eigengesetzlichkeit der Welt" zugestanden wird. Die Folge: "Das Christliche gehört in einen besonderen - kirchlichen, religiösen, privaten - Bereich". So äußern sich die beiden "Irrtümer" in "Schwärmerei und Säkularismus". Der Irrtum besteht darin, "daß sie das Christliche und das Weltliche prinzipiell, und das bedeutet unabhängig von der Tatsache der Menschwerdung, verstehen." Dies produziert einen "unlösbaren Konflikt" zwischen beiden Polen (236). Demgegenüber ist festzuhalten:
"Nicht aus der bitteren Resignation über den unheilbaren Riß zwischen Christlichem und Weltlichem, sondern aus der Freude über die vollzogene Versöhnung der Welt mit Gott, aus dem Frieden des vollbrachten Heilswerkes in Jesus Christus kommen die neutestamentlichen Worte über das christliche Handeln, kommt die Bergpredigt. Wie in Jesus Christus Gott und Mensch eins wurde, so wird durch ihn im Handeln des Christen das Christliche und das Weltliche eins... Aber auch diese Einheit darf nun nicht als prinzipielle verstanden werden, ... sondern sie besteht allein in der Person Jesu Christi... Von ihm her allein gibt es nun auch menschliches Handeln, das sich nicht an prinzipiellen Konflikten zerreibt, sondern aus der vollzogenen Versöhnung der Welt mit Gott herkommt" (237).
Die daraus hervorgehende "echte christliche Verantwortung umfaßt das Ganze des weltlichen Handelns. Sie läßt sich keineswegs auf irgendeinen isolierten religiösen Bereich beschränken." Ebenso hebt sie aber auch einen "falschen Realismus" auf, der im Bereich des "geschichtlich politischen Handelns" nur "die unbedingte Selbstbehauptung" gelten lassen will. "Geschichtlich-politisches und christliches Handeln müssen daher in einander ausschließenden Gegensatz treten" (238). "Gewalt steht gegen Liebe. Es ist, so heißt es, Utopie, mit der Bergpredigt geschichtlich-politisch handeln zu wollen" (239f.). "Wirklichkeitswidrig ist dieser angebliche Realismus daher darin, daß er die in der Geschichte allem Mißbrauch von Gewalt gesetzten Grenzen und also das Scheitern jeder reinen Gewaltherrschaft übersieht und daß er nicht erkennt, wie in der Geschichte jede Gewalt von der - wenn auch nur geheuchelten - Anerkennung gewisser letzter Wirklichkeiten lebt" (239).
Das Stichwort Liebe ist demgegenüber folgendermaßen zu verstehen: "Die Liebe, um die es im Evangelium im Unterschied zu aller Philosophie geht, ist nicht eine Methode des Umgangs mit Menschen, sondern ein Hineingezogenwerden und Hineinziehen in ein Ereignis, nämlich in die in Jesus Christus vollzogene Gemeinschaft Gottes mit der Welt, 'Liebe' gibt es nicht als abstrakte Eigenschaft Gottes, sondern als reales von Gott Geliebtsein des Menschen und der Welt" (240).
"Jeder Versuch, ein von weltlichen 'Verunreinigungen' destilliertes Christentum der 'reinen' Liebe darzustellen, ist falscher Purismus und Perfektionismus, der die Menschwerdung Gottes verachtet und dem Schicksal jeder Ideologie verfällt" (240f.).
"Die Bergpredigt als die Verkündigung der menschgewordenen Liebe Gottes ruft den Menschen in die Liebe zum anderen Menschen", anders ausgedrückt: "zur Selbstverleugnung... Die Liebe Gottes befreit den von der Selbstliebe getrübten und irregeführten Blick des Menschen zu der klaren Erkenntnis der Wirklichkeit, des Nächsten und der Welt und macht ihn so und nur so bereit zur Wahrnehmung echter Verantwortung" (241).
Dies ist die Botschaft der Bergpredigt: Sie "Stellt den Menschen in Verantwortung für andere und kennt keinen Einzelnen als Einzelnen." Solches verantwortliches Handeln aus Liebe hat seinen "Ursprung" in der "Liebe Gottes ..., die die ganze Wirklichkeit in sich schließt" (242). Die Grenzenlosigkeit der Liebe Gottes zeigt sich am Kreuz, und durch sie werden wir "in diese selbe durch das Kreuz Jesu besiegelte Liebe zur ganzen Welt hineingerufen" (243).
Dabei ist festzuhalten, daß "die Liebe Gottes zur Welt auch das politische Handeln umfaßt..." Dabei gilt auch: "Politisches Handeln bedeutet Verantwortung wahrnehmen. Es kann nicht geschehen ohne Macht. Die Macht tritt in den Dienst der Verantwortung" (244).
Die Geschichte und das Gute. [Zweite Fassung]
Die Ausgangssituation ist: "wir leben. Das bedeutet jedenfalls, daß wir die Frage nch dem Guten nicht mehr so stellen und beantworten können, als hättern wir erst das Leben neu und gut zu schaffen" (245). So wird "mitten in unserem geschichtlichen Dasein", in dem wir bereits stehen, "die Frage nach dem Guten gestellt und entschieden. Die Frage nach dem Guten ist nicht mehr zu trennen von der Frage nach dem Leben, nach der Geschichte."
Dabei haben wir die "Abstraktion eines isolierten einzelnen Menschen, der nach einem absoluten Maßstab eines an und für sich Guten unaufhörlich und ausschließlich zwischen diesem klar erkannten Guten und dem ebenso klar erkannten Bösen zu entscheiden hat, ... hinter uns gelassen." Denn "der absolute Maßstab eines an und für sich Guten" ist "ein metaphysisches an und für sich seiendes Gebilde ohne wesentliche Beziehung zum Leben". Vielmehr geht es um die "echte Entscheidung, in der der ganze Mensch samt Erkenntnis und Willen in der Vieldeutigkeit einer geschichtlichen Situation nur im Wagnis der Tat selbst das Gute sucht und findet" (246). Die oben beschriebene Abstraktion führt entweder zum "Rückzug in die private Sphäre" oder "zur Schwärmerei", was "die großen politischen Fanatiker und Ideologen wie schließlich auch die närrisch aufdringlichen Lebensreformer aller Schattierungen umschließt", die "am Leben selbst gescheitert sind". Der Grund für diesen "Mißerfolg" einer abstrakten Auffassung vom Guten ist, "daß hier überhaupt keine echte Begegnung mit dem Leben, mit dem Menschen stattgefunden hat... Es ist Gnade, wenn Gott sich in der Stunde dieses unseligen Erwachens dem Menschen als Schöpfer, vor dem der Mensch nur als Geschöpf leben kann, offenbart und so die Armut segnet" (247).
Bei einer abstrakten Auffassung vom Guten wird das "Leben ... bestenfalls als jenes Stück 'Natur' verstanden, das seinen Ursprung wie seine Erlösung dem Geist, der Idee verdankt."
"Seit Jesus Christus von sich sagte: Ich bin das Leben (Joh 14,6 11,27), kommt kein christliches, aber auch kein philosophisches Denken mehr an diesem Anspruch und der in ihm enthaltenen Wirklichkeit vorbei." So können wir nichts mehr über "das Wesen des Lebens an sich" aussagen: "Wir können das Leben nur leben, aber nicht definieren. Das Wort Jesu bindet jeden Gedanken über das Leben an seine Person" (248). "Aus der Frage, was das Leben sei, wird hier die Antwort, wer das Leben sei" (248f.). Mit diesem Wort sagt Jesus aber auch, "daß er nicht nur das Leben ... ist, sondern gerade mein Leben, unser Leben - ein Sachverhalt, den Paulus mit dem Wort 'Christus ist mein Leben' (Phil 1,21) und 'Christus, unser Leben' (Kol 3,4) ... ausspricht. Mein Leben ist außerhalb meiner selbst ... das Leben selbst ist Jesus Christus."
Dieses Wort Jesu ist ein "uns von außen begegnender Anspruch, dem wir glauben oder widersprechen" (249). Wir erkennen daran auch, "daß wir vom Leben, von unserem Leben abgefallen sind, daß wir im Widerspruch zum Leben, zu unserem Leben, leben. So gilt: "Nicht anders als im Ja und Nein können wir Christus als unser Leben erkennen. Es ist das Ja der Schöpfung, der Versöhnung, der Erlösung und das Nein des Gerichts und des Todes über das von seinem Ursprung, Wesen und Ziel abgefallene Leben" (250). "Es ist das Ja zum Geschaffenen" (250f.) und "das Nein, das Sterben, Leiden, Armut, Verzichten, Hingabe, Demut, Erniedrigung, Selbstverleugnung bedeutet ..." Beides ist nicht voneinander zu trennen - "vielmehr ist dieses neue Leben, das in Jesus Christus eins ist, so zwischen Ja und Nein eingespannt, daß in jedem Ja schon das Nein, in jedem Nein auch das Ja vernommen wird." Trennt man beides, so kommt es "zu den Abstraktionen einer Vitalitätsethik und einer sogenannten Ethik Jesu, zu jenen bekannten Theorien von den autonomen Lebensbereichen, die mit der Bergpredigt nichts zu tun haben, es kommt zu einer Zerreißung der Einheit des Lebens..." Dies geht "an der Wirklichkeit des Lebens" vorbei. "Man bleibt hier als Folge falscher Abstraktionen in ewig unlösbaren Konflikten stecken, über die das praktische Handeln nicht hinauskommt und an denen es sich zerreibt" (252f.). Demgegenüber gilt: "Weil in Jesus Christus Gott und Mensch eins wurde, wird durch ihn im Handeln der Christen das 'Weltliche' und das 'Christliche' eins. Sie stehen nicht gegeneinander als zwei ewig feindliche Prinzipien, sondern das Handeln der Christen quillt aus der in Christus geschaffenen Einheit von Gott und Welt und Einheit des Lebens."
Für die "Frage nach dem Guten" bedeutet dies zunächst, "daß es sich ... nicht um eine Abstraktion vom Leben ... handelt, sondern um das Leben selbst. Gut ist das Leben als das was es in Wirklichkeit, das heißt in seinem Ursprung, seinem Wesen und seinem Ziel ist, also Leben im Sinn des Wortes: Christus ist mein Leben. Gut ist nicht eine Qualität des Lebens, sondern das 'Leben' selbst. Gutsein heißt 'leben'" (252).
"Jesus Christus aber ist der Mensch und ist Gott in einem... Von nun an kann der Mensch nicht mehr anders als in Jesus Christus und Gott nicht mehr anders als in der Menschengestalt Jesu Christi gedacht und erkannt werden... Der Mensch ist in der Menschwerdung angenommen, in Christus geliebt und gerichtet und versöhnt, Gott ist der Menschgewordene. Es gibt auch kein Verhältnis zum Menschen ohne ein Verhältnis zu Gott und umgekehrt." Das heißt auch, daß unsere Begegnung mit anderen Menschen wie unsere Begegnung mit Gott unter demselben Ja und Nein steht, unter dem unsere Begegnung mit Jesus Christus steht."
Aus dieser Einheit von Ja und Nein folgt für unser Leben "Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe an Gott und die Menschen."
Auf das Wort Jesu können wir nur "mit dem ganzen Leben, wie es sich jeweils handelnd realisiert", antworten (253).
"Dieses Leben als Antwort auf das Leben Jesu Christi (als Ja und Nein über unser Leben) nennen wir 'Verantwortung'. Diese meint die "Ganzheit und Einheit der Antwort auf die uns in Jesus Christus gegebene Wirklichkeit ... im Unterschied zu den Teilantworten, die wir zum Beispiel aus der Erwägung der Nützlichkeit oder aus bestimmten Prinzipien heraus geben könnten." Dies ist eine "Ganzheit des Lebens" in der "auf Leben und Tod gehandelt wird" (254).
"Verantwortung im biblischen Sinne ist in erster Linie eine unter Einsatz des Lebens mit Worten gegebene Antwort auf die Fragen der Menschen nch dem Christusereignis (1 Tim 4,16 1 Petr 3,15 Phil 1,7 und 17). Daraus folgt weiter: "indem ich Christus, das Leben, vor den Menschen verantworte - und nur so -, verantworte ich mich zugleich für die Menschen vor Christus; ich stehe zugleich für Christus vor den Menschen und für die Menschen vor Christus" (255). "Verantwortung gibt es nur im Bekenntnis zu Jesus Christus mit Wort und Leben."
Die Struktur des verantwortlichen Lebens
"Die Struktur des verantwortlichen Lebens" ist bestimmt "durch die Bindung des Lebens an Mensch und Gott und durch die Freiheit des eigenen Lebens... Ohne diese Bindung und ohne diese Freiheit gibt es keine Verantwortung. Nur das in der Bindung selbstlos gewordene Leben steht in der Freiheit eigensten Lebens und Handelns." Die "Disposition" für die folgende Betrachtung ist: "Die Bindung trägt die Gestalt der Stellvertretung und der Wirklichkeitsgemäßheit, die Freiheit erweist sich in der Selbstzurechnung des Lebens und Handelns und im Wagnis der konkreten Entscheidung" (256).
"Daß Verantwortung auf Stellvertretung beruht, geht am deutlichsten aus jenen Verhältnissen hervor, in denen der Mensch unmittelbar genötigt ist, an der Stelle anderer Menschen zu handeln, also etwa als Vater, als Staatsmann, als Lehrmeister. Der Vater ... vereinigt in sich das Ich mehrerer Menschen... An dieser Wirklichkeit scheitert die Fiktion, als sei das Subjekt alles ethischen Verhaltens der isolierte Einzelne. Selbstverantwortung ist in Wahrheit Verantwortung gegenüber dem Menschen und das heißt der Menschheit" (257). Weil Jesus - das Leben, unser Leben, - als der Menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben. Jeus war nicht der Einzelne, der zu einer eigenen Vollkommenheit gelangen wollte, sondern er lebte nur als der, der in sich das Ich aller Menschen aufgenommen hat und trägt.
Aus dieser Verbindung von "Stellvertretung" und "Verantwortlichkeit" folgt: "Nur der Selbstlose lebt verantwortlich und das heißt nur der Selbstlose lebt. Wo das göttliche Ja und Nein im Menschen eins werden, dort wird verantwortlich gelebt... Ein Mißbrauch des stellvertretenden Lebens droht von zwei Seiten: durch die Absolutsetzung des eigenen Ich wie durch die Absolutsetzung des anderen Menschen... In beiden Fällen ist Ursprung, Wesen und Ziel des verantwortlichen Lebens in Jesus Christus geleugnet" (258).
Die Verantwortung bezieht sich in erster Linie auf Menschen. "Es gibt auch eine Verantwortung für Dinge", doch ist ihre "schöpfungsgemäße Ausrichtung auf den Menschen" durch Christus unbedingt zu beachten.
"Der Verantwortliche ist an den konkreten Nächsten in seiner konkreten Wirklichkeit gewiesen. Sein Verhalten liegt nicht von vornherein und ein für allemal, also prinzipiell fest, sondern es entsteht mit der gegebenen Situation... Nicht ein 'absolut Gutes' soll verwirklicht werden, vielmehr gehört es zu der Selbstbescheidung des verantwortlich Handelnden, ein relativ Besseres dem relativ Schlechteren vorzuziehen und zu erkennen, daß das 'absolut Gute' gerade das Schlechteste sein kann. Der Verantwortliche hat der Wirklichkeit nicht ein fremdes Gesetz aufzuzwingen, vielmehr ist das Handeln des Verantwortlichen im echten Sinne 'wirklichkeitsgemäß'" (260).
Doch wäre der "Begriff des Wirklichkeitsgemäßen ... mißverstanden ... als jene 'servile Gesinnung vor [dem] Faktum', von der Nietzsche spricht, ... die den Erfolg prinzipiell rechtfertigt und das jeweils Opportune als das Wirklichkeitsgemäße wählte" (260f.) Dies wäre "Verantwortungslosigkeit". Ein weiteres Mißverständnis wäre "prinzipieller Widerspruch, die prinzipielle Auflehnung gegen das Faktische ... Beide Extreme sind vom Wesen der Sache gleich weit entfernt." Vielmehr ist zu beachten, "daß die Wirklichkeit ... nicht ein Neutrum, sondern der Wirkliche, nämlich der menschgewordene Gott ist. Alles Faktische erfährt von dem Wirklichen, ... Jesus Christus ..., seine letzte Begründung und seine letzte Aufhebung... Die Wirklichkeit ohne den Wirklichen verstehen zu wollen, bedeutet in einer Abstraktion leben, der der Verantwortliche niemals verfallen darf" (261).
"Nicht weil der Mensch und seine Wirklichkeit der göttlichen Bejahung würdig gewesen wäre, hat Gott ihn angenommen, wurde Gott Mensch, sondern weil der Mensch und seine Wirklichkeit des göttlichen Neins würdig war, darum nahm ihn Gott an und bejahte ihn, indem er selbst leibhaftig Mensch wurde und so den Fluch des göttlichen Neins über das menschliche Wesen selbst auf sich nahm und erlitt... Weil in Jesus Christus, dem Wirklichen, die ganze Wirklichkeit aufgenommen und zusammengefaßt ist, ... darum ist nur in ihm und von ihm aus ein wirklichkeitsgemäßes Handeln möglich. Weder der pseudolutherische Christus, der allein dazu da [ist], das Faktische zu sanktionieren, noch der radikal schwärmerische Christus, der jeden Umsturz segnen soll, sondern der menschgewordene Gott Jesus Christus, der den Menschen angenommen und mit ihm die Welt geliebt, gerichtet und versöhnt hat, ist der Ursprung wirklichkeitsgemäßen Handelns.
Daraus ergibt sich ..., daß christusgemäßes Handeln wirklichkeitsgemäßes Handeln ist" (262). Das Wort Jesu Christi ist ... die Auslegung seiner Existenz und damit die Auslegung jener Wirklichkeit, in der die Geschichte zu ihrer Erfüllung kommt. Sie sind göttliches Gebot für das verantwortliche Handeln in der Geschichte, insofern als sie die in Christus erfüllte Wirklichkeit der Geschichte, die in Christus allein erfüllte Verantwortung für die Menschen, sind... Jeder Versuch, sie aus diesem Ursprung zu lösen, verzerrt sie zu einer schwachen Ideologie ...
Wirklichkeitsgemäß ist das christusgemäße Handeln, weil es die Welt Welt sein läßt, weil es mit der Welt als Welt rechnet und doch niemals aus den Augen läßt, daß die Welt in Jesus Christus von Gott geliebt, gerichtet und versöhnt ist..." (263). "Wo ein weltliches und ein christliches Prinzip einandergegenü-bergestellt [sic!] werden, dort gilt als die letzte Wirklichkeit das Gesetz - oder vielmehr eine Mehrzahl von miteinander unversöhnlichen Gesetzen ..." (264). "Der Ernst Luthers aber ist ein ganz anderer als der Ernst jener klassischen Tragiker. Nicht der Zwiespalt der Götter in der Gestalt ihrer Gesetze, sondern die Einheit Gottes und die Versöhnung der Welt mit Gott in Jesus Christus, ... das ist für die Bibel und für Luther das letztlich Ernstzunehmende" (265)
Doch wäre es "ebenso falsch, das Christliche und das Weltliche als prinzipielle Einheit zu verstehen. Die in Christus geschaffene Versöhnung von Gott und Welt besteht einzig und allein in der Person Jesu Christi... Von ihm her allein gibt es menschliches Handeln, das sich nicht an prinzipiellen Konflikten zerreibt, ... ein Handeln in stellvertretender Verantwortung" (265f.).
Die Aussage, daß "die Welt Welt bleibt", ist "nicht ... eine prinzipielle Isolierung der Welt, eine Autonomieerklärung für die Welt", sondern drückt die Notwendigkeit aus, die Welt als "die in Christus geliebte, gerichtete, versöhnte Welt" ernstzunehmen. Deshalb geht es weder darum, "die Welt zu überspringen und aus ihr das Reich Gottes zu machen", noch darum, "die böse Welt ihrem Schicksal" zu überlassen. "Es wird vielmehr der Mench in die konkrete und damit begrenzte geschaffene Verantwortung gestellt, die die Welt als von Gott geliebte, gerichtete und versöhnte erkennt und dementsprechend in ihr handelt" (266).
"Wirklichkeitsgemäßes Handeln steht in der Begrenzung durch unsere Geschöpflichkeit... Unsere Verantwortung ist nicht eine unendliche, sondern eine begrenzte. Innerhalb dieser Grenzen freilich umfaßt sie das Ganze der Wirklichkeit; ... sie sieht es unter dem göttlichen Ja und Nein... Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun, kann die Aufgabe sein" (267). Denn "weil Gott in Christus Mensch wurde, "dürfen und sollen" wir "in menschlicher Begrenztheit" handeln. "Weil aber Gott Mensch wurde, darum kann verantwortliches Handeln ... das Urteil über das eigene Handeln ... niemals selbst vorwegnehmen, sondern es muß es ganz an Gott ausliefern... Das letzte Nichtwissen des eigenen Guten und Bösen und damit das Angewiesensein auf Gnade gehört wesentlich zum verantwortlichen geschichtlichen Handeln. Der ideologisch Handelnde sieht sich in seiner Idee gerechtfertigt, der Verantwortliche legt sein Handeln in die Hände Gottes und lebt von Gottes Gnade und Gericht."
Eine weitere Grenze dieses Handelns ist, "daß es mit der Verantwortlichkeit der anderen ihm begegnenden Menschen rechnet... Die Verantwortung des Vaters oder des Staatsmannes ist begrenzt durch die Verantwortlichkeit des Kindes oder des Staatsbürgers" (268), ja sie sucht "die Verantwortlichkeit der ihm Anbefohlenen ins Bewußtsein zu erheben, zu stärken" (268f.).
Aus dem Gesagten wird deutlich: "Gott und der Nächste, wie sie uns in Jesus Christus begegnen, sind ja nicht nur die Grenzen, sondern - wie wir schon erkannten - auch der Ursprung verantwortlichen Handelns... Gerade weil es seiner selbst nicht Herr ist, ... kann es von einer letzten Freude und Zuversicht getragen sein, kann es sich in seinem Ursprung, Wesen und Ziel, in Christus, geborgen wissen."
Im Rahmen verantwortlichen Handelns, das sich an der Wirklichkeit Gottes in Christus orientiert, "darf und muß nun auch von dem Verhältnis des Verantwortlichen zu den Dingen gesprochen werden", d.h. von einem Verhältnis der "Sachgemäßheit" (269). Hierzu sind zwei Aspekte wichtig:
"Erstens: Sachgemäß ist das Verhalten zu den Dingen, das ihre ursprüngliche, wesenhafte und zielhafte Beziehung auf Gott und den Menschen im Auge behält" (269f.) "... Je reiner, je freier von persönlichen Nebenzwecken einer Sache gedient wird, desto mehr gewinnt sie ihre ursprüngliche Beziehung zu Gott und zum Menschen zurück, desto mehr befreit sie den Menschen von sich selbst... Es geht um die Wiederherstellung des ursprünglichen Verhältnisses aus der in Jesus Christus begründeten Verantwortung" (270).
Zweitens, jeder Sache wohnt von ihrem Ursprung her ein Wesensgesetz inne, gleichgültig ob es sich um eine vorgefundene Naturbegebenheit oder um ein Erzeugnis des menschlichen Geistes, ob es sich um eine materielle oder ideelle Größe handelt... Die Axiome der Mathematik und der Logik gehören ebenso hierher wie der Staat oder die Familie... Überall muß das betreffende Wesensgesetz aufgedeckt werden, durch das diese Größe Bestand hat. Je stärker eine Sache mit der Existenz des Menschen verbunden ist, desto schwerer ist es, ihr Wesensgesetz zu bestimmen" (271).
Wenn ein Staatsmann diese Gesetzlichkeiten mißachtet, wird sich dies früher oder später rächen. Doch ist "mit diesen Gesetzlichkeiten der Staatskunst das Wesensgesetz des Staates nicht erschöpfend erfaßt". Durch seine Verbindung "mit der menschlichen Existenz" wird erst "die Tiefe verantwortlichen Handelns erreicht".
"Dort wo die sachliche Befolgung des formalen Gesetzes ... durch den Verlauf des geschichtlichen Lebens zusammenprallt mit den nackten Lebensnotwendigkeiten von Menschen, tritt verantwortliches sachgemäßes Handeln aus dem Bereich des Prinzipiell-Gesetzlichen", wodurch eine "außerordentliche Situation letzter Notwendigkeiten" entsteht (vgl. die "necessità" bei Macchiavelli). Sie können "durch kein Gesetz mehr erfaßt werden", sondern "appellieren unmittelbar an die durch kein Gesetz gebundene freie Verantwortung des Handelnden" - es sind "Grenzfälle", die "vor die Frage der ultima ratio" stellen. Doch: "Alles wird im tiefsten Grunde verkehrt, wenn die ultima ratio selbst wieder zu einem rationalen Gesetz gemacht wird" (273). Vielmehr geht es hier um verantwortliches Handeln "mit dem offenen Eingeständnis, daß hier das Gesetz verletzt, durchbrochen wird, daß hier die Not das Gebot bricht, verbunden also mit der gerade in dieser Durchbrechung anerkannten Gültigkeit des Gesetzes" - dies verlangt "das Ausliefern der eigenen getroffenen Entscheidung und Tat an die göttliche Lenkung der Geschichte."
Ganz gleich, ob man "das ewige Gesetz oder die freie Verantwortung gegen alles Gesetz ... vor Gott" als letzten Maßstab ansieht (274) - "so oder so wird der Mensch schuldig und so oder so kann er allein von der göttlichen Gnade und der Vergebung leben... Das Gericht bleibt bei Gott."
Dies heißt auch, "daß zur Struktur verantwortlichen Handelns die Bereitschaft zur Schuldübernahme und die Freiheit gehört."
Auch dies läßt sich von Christus als dem "Ursprung aller Verantwortlichkeit" herleiten:
"Weil es Jesus nicht um die Proklamation und Verwirklichung neuer ethischer Ideale, also auch nicht um sein eigenes Gutsein (Mt 19[,17]!), sondern allein um die Liebe zum wirklichen Menschen geht, darum kann er in die Gemeinschaft ihrer Schuld eintreten, sich mit ihrer Schuld belasten lassen... Als im geschichtlichen Dasein des Menschen verantwortlich Handelnder wird Jesus schuldig. Es ist - wohlgemerkt - allein seine Liebe, die ihn schuldig werden läßt. Au seiner selbstlosen Liebe, aus seiner Sündlosigkeit heraus tritt Jesus in die Schuld der Menschen ein..." (275).
"In diesem sündlos-schuldigen Jesus Christus hat nun jedes stellvertretend verantwortliche Handeln seinen Ursprung", und zwar dann, "wenn es aus selbstloser Liebe zum wirklichen Menschen hervorgeht..."
"Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus der letzten Wirklichkeit des menschlichen Daseins, löst sich aber auch aus dem erlösenden Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt. Er stellt seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen, und er ist blind für die heillosere Schuld, die er gerade damit auf sich lädt..."
Hiergegen gibt es "einen Widerspruch ... aus der hohen Instanz des Gewissens", und: Eine Verantwortung, die zu einem Handeln wider das Gewissen zwingt, würde sich selbst verurteilen. Was ist daran richtig und was falsch?
Richtig ist, daß es niemals geraten sein kann wider das eigene Gewissen zu handeln..." (276). "Das Gewissen ist der aus einer Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst..." (276f.). "Es protestiert gegen ein Tun, das dieses Sein in der Einheit mit sich selbst gefährdet..."
Doch ist außer dieser "formalen Bestimmung ... auch [nach] "dem Inhalt dieser Einheit zu fragen... Der Gewissensruf im natürlichen Menschen ist der Versuch des Ich sich in seinem Wissen um Gut und Böse vor Gott, vor den Menschen und vor sich selbst zu rechtfertigen und in dieser Selbstrechtfertigung bestehen zu können..." (277). "So hat der Gewissensruf seinen Urstprung und sein Ziel in der Autonomie des eigenen Ich...
Die große Veränderung tritt ... in dem Augenblick ein, in dem die Einheit der menschlichen Existenz nicht mehr in ihrer Autonomie besteht, sondern - durch das Wunder des Glaubens - jenseits des eigenen Ich un seines Gesetzes, in Jesus Christus gefunden wird" (278).
Diese "gottloseste Selbstrechtfertigung" des natürlichen Gewissens "wird überwunden durch das in Jesus Christus befreite Gewissen, das zur Einheit mit mir selbst in Jesus Christus ruft." Diese Einheit besteht "in der Hingabe meines Ich an Gott und die Menschen". Das Gewissen hat dann seinen Ursprung nicht in einem Gesetz, sondern in Jesus Christus. "Um Gottes und der Menschen willen wurde Jesus zum Durchbrecher des Gesetzes..." Das so "befreite Gewissen ... einigt sich mit der in Christus begründeten Verantwortung um des Nächsten willen Schuld zu tragen." Zwar ist "im Unterschied zu der wesenhaften Sündlosigkeit Jesu Christi" das menschliche Handeln "niemals sündlos sondern von der wesenhaften Erbsünde vergiftet" (279), doch "nimmt es als verantwortliches Handeln ... doch indirekt an dem Handeln Jesu Christi teil." daher gibt es "für das verantwortliche Handeln so etwas wie eine relative Sündlosigkeit..." (280).
"Die Weigerung ... Schuld zu tragen aus Nächstenliebe, setzt mich in Widerspruch zu meiner in der Wirklichkeit begründeten Verantwortung. Es wird sich auch hier gerade im verantwortlichen Aufsichnehmen von Schuld die Unschuld eines allein an Christus gebundenen Gewissens am besten erweisen" (280f.)
"Das in verantwortlichem Handeln jeweils notwendig werdende Schuldtragen bleibt durch das Gewissen in zweifacher Hinsicht begrenzt.
Erstens ist auch das in Christus befreite Gewissen seinem Wesen nach der Ruf zur Einheit mit mir selbst. Die Übernahme einer Verantwortung darf diese Einheit nicht vernichten..." (281). "Es gibt Verantwortungen, die ich nicht zu tragen vermag, ohne daran zu zerbrechen..." Hieraus erklärt sich auch "die unendliche Mannigfaltigkeit verantwortlicher Entscheidungen.
Zweitens: Auch das in Jesus Christus befreite Gewissen stellt das verantwortliche Handeln vor das Gesetz, durch dessen Befolgung der Mensch in der in Jesus Christus begrüngeten Einheit mit sich selbst bewahrt wird, aus dessen Verachtung nur Verantwortungslosigkeit entspringen kann. Es ist das Gesetz der Gottes- und Nächstenliebe ..." (282).
Doch weil Gesetz und Gewissen letztlich an Christus gebunden sind, "muß in der Auseinandersetzung zwischen Gewissen und konkreter Verantwortung die freie Entscheidung für Christus fallen... So wird die Verantwortung durch das Gewissen gebunden, aber das Gewissen durch die Verantwortung frei..."
"Wer in Verantwortunt Schuld auf sich nimmt ... der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu... Vor den anderen Menschen rechtfertigt den Mann der freien Verantwortung die Not, vor sich selbst aber spricht ihn sein Gewissen frei, aber vor Gott hofft er allein auf Gnade."
Der letzte zu behandelnde Begriff im Rahmen der "Analyse der Struktur des verantwortlichen Lebens" ist die "Freiheit":
"Verantwortung und Freiheit sind einander korrespondierende Begriffe. Verantwortung setzt sachlich ... Freiheit voraus, wie Freiheit nur in der Verantwortung bestehen kann. Verantwortung ist die in der Bindung an Gott und den Nächsten allein gegebene Freiheit des Menschen" (283).
Für den in freier Verantwortung Handelnden gilt: "Die Tatsache, daß nichts für ihn eintreten, ihn entlasten kann als seine Tat und er selbst, ist der Beweis seiner Freiheit... Das Handeln des Veranttwortlichen geschieht in der allein und gänzlich befreienden Bindung an Gott und den Nächsten, wie sie mir in Jesus Christus begegnen, es geschieht dabei ganz im Bereich der Relativitäten, ganz in dem Zwielicht, das die geschichtliche Situation über gut und Böse breitet..." Es kann sich an kein Gesetz binden und sucht keine Selbstrechtfertigung. "Das Gute als das Verantwortliche geschieht ... in der Auslieferung der notwendig gewordenen und doch (oder darin!) freien Tat an Gott ..."
Darin liegt "ein tiefes Geheimnis der Geschichte": "Gerade der in der Freiheit eigenster Verantwortung Handelnde sieht sein Handeln einmünden in Gottes Führung. Freie Tat erkennt sich zuletzt als Gottes Tat..."
Doch "wie verhält sich freie Verantwortung und Gehorsam zueinander? Es muß zunächst so scheinen, als fände alles über die freie Verantwortung Gesagte praktisch nur dort Anwendung, wo ... selbständige Entscheidungen von größerem Ausmaß getroffen werden müssen" (285). Doch "ist nun kein Zweifel, daß in unserer modernen und insbesondere unserer deutschen Gesellschaftsordnung die Existenz des Einzelnen in so bestimmter Weise ... reglementiert ... ist, daß es nur wenigen vergönnt ist, die freie Luft des weiten Raumes großer Entscheidungen zu atmen und die Gefahr eigensten verantwortlichen Handelns kennen zu lernen." dies ist eine "Fehlentwicklung" (286). Doch: "Auch dort ..., wo die freie Verantwortung aus dem beruflichen und öffentlichen Leben mehr oder weniger ausgeschlossen ist, bleibt das Verhältnis zum Menschen immer ein verantwortliches, von der Familie bis zum Arbeitskameraden..."
Und: "Verantwortlichkeit steht nicht nur neben den Gehorsamsverhältnissen, sondern hat auch in diesen ihren Raum. Der Lehrling, der zum Gehorsam gegen den Meister verpflichtet ist, hat zugleich eine freie Verantwortung für seine Arbeit... Gehorsams- und Abhängigkeitsverhältnisse wird es immer geben. Es kommt nur darauf an, daß sie nicht ... die Verantwortlichkeiten aufheben" (287).
"Der letzte Grund hierfür liegt in dem in Jesus Christus verwirklichten Verhältnis des Menschen zu Gott. Jesus steht vor Gott als der Gehorsame und als der Freie. Als der Gehorsame tut er den Willen des Vaters in blinder Befolgung des ihm befohlenen Gesetzes. Als der Freie bejaht er den Willen aus eigener Erkenntnis... Gehorsam ohne Freiheit ist Sklaverei, Freiheit ohne Gehorsam ist Willkür. Der Gehorsam bindet die Freiheit, die Freiheit adelt den Gehorsam. Der Gehorsam bindet das Geschöpf an den Schöpfer, die Freiheit stellt das Geschöpf in seiner Ebenbildlichkeit dem Schöpfer gegenüber...
In der Verantwortung realisiert sich beides, Gehorsam und Freiheit. Sie trägt diese Spannung in sich..." (288). "Der Mensch der Verantwortung, der zwischen Bindung und Freiheit steht, ... findet seine Rechtfertigung weder in seiner Bindung noch in seiner Freiheit... Der Verantwortliche liefert sich selbst und seine Tat Gott aus..."
Eine letzte Frage ist noch zu beantworten: "Welches ist der Ort und welches sind die Grenzen meiner Verantwortung?"
Der Ort der Verantwortung
Zur Erörterung dieser Frage ist der "Begriff des Berufes" wichtig (289). Dabei ist jedoch nicht das säkulare Verständnis des Berufes gemeint, auch nicht das Verständnis Luthers, das über den neutestamentlichen Begriff (I Kor 7,20) hinausgeht. Vielmehr soll das biblische Verständnis von Beruf mit dem Begriff der Verantwortung parallelisiert werden (290):
"Allein duch den in Christus vernommenen Ruf der Gnade, die mich in Anspruch nimmt, darf ich als Sklave oder Frei[er], verheiratet oder ehelos vor Gott gerechtfertigt leben...
Zwei ... Mißverständnisse sind damit ausgeschlossen: das kulturprotestantische und das mönchische. Nicht in der treuen Leistung seiner irdischen Berufspflichten ... erfüllt der Mensch die ihm auferlegte Verantwortung, sondern im Vernehmen des Rufes Jesu Christi, der ihn zwar auch in die irdischen Pflichten hineinführt, aber niemals in ihnen aufgeht... Der Beruf im neutestamentlichen Sinne ist niemals eine Sanktionierung der weltlichen Ordnungen als solcher, sein Ja zu ihnen enthält immer zugleich das schärfste Nein... Die Rückkehr Luthers in die Welt" bedeutet (291): "Nun wird in der Welt gegen die Welt Stellung bezogen, der Beruf ist der Ort, an dem dem Ruf Christi geantwortet und so verantwortlich gelebt wird" (291f.).
Das Mißverständnis des mittelalterlichen Mönchtums liegt ... in dem Versuch, einen Ort zu finden, der nicht Welt ist und an dem daher diesem Ruf angemessener geantwortet werden könnte. In diesem vergeblichen Versuch, der Welt zu entrinnen, wird weder das Nein Gottes, das der ganzen Welt - auch dem Kloster - gilt, noch aber auch das Ja Gottes, in dem [er] die Welt mit sich versöhnt, ernst genommen... Luther ging es in seiner Rückkehr in die Welt allein um die ganze Verantwortung vor dem Ruf Christi..." Es geht um "das Ja und das Nein, das der Ruf Jesu Christi für das Leben in der Welt in sich schließt ..." (292). "Also nicht aus der Erfüllung der irdischen Berufspflichten als solcher kommt das gute und freie Gewissen... Nur wo in der Verantwortung gegen den Ruf Jesu Christi der konkrete Beruf erfüllt wird, also nur von der Erkenntnis der Menschwerdung Jesu Christi her, kann das Gewissen im konkreten Tun frei sein..."
Der "Begriff des Berufes" beantwortet die "Frage noch Ort und Grenze der Verantwortung ... nur dort ..., wo der Beruf gleichzeitig in allen seinen Dimensionen verstanden wird. Er ist der Ruf Jesu Christi, ihm ganz zu gehören; er ist meine Inanspruchnahme durch Christus an dem Ort, an dem ich von diesem Ruf getroffen werde; er umfaßt sachliche Arbeit und persönliche Beziehungen"; dabei ist er nie verstanden "als ... Wert an sich, sondern in der Verantwortung gegenüber Jesus Christus" (293).
"Gerade weil Beruf Verantwortung ist und weil Verantwortung eine ganze Antwort des Menschen auf das Ganze der Wirklichkeit ist, gibt es kein banausisches Sichbeschränken auf die engsten Berufspflichten; eine derartige Beschränkung wäre Verantwortungslosigkeit." Wenn ich über meine Berufspflichten hinausgehe, wird dies kein Prinzip, sondern "eine freie Verantwortung gegenüber dem Ruf Jesu Christi sein, die mich hierhin oder dorthin führt" (294).
"Auch das Gebot der Nächstenliebe bedeutet ... nicht eine gesetzliche Beschränkung der Verantwortung auf den räumlich, bürgerlich, beruflich, familiär Nächsten, der mir begegnet" (296). Es geht darum, "das Gebot der Nächstenliebe gegen falsche Begrenzung offenzuhalten und so dem Berufsbegriff die evangelische Freiheit zu erhalten."
"Ist nun aber nicht durch das Gesetz Gottes, wie es im Dekalog offenbart ist, und durch die göttlichen Mandate der Ehe, der Arbeit, der Obrigkeit eine unüberschreitbare Grenze für jedes verantwortliche Handeln im Beruf aufgerichtet?" (297). Sicher ist diese Grenze zu respektieren, "doch wird gerade das verantwortliche Handeln dieses Gesetz nicht [von] seinem Geber trennen... es wird Jesus Christus als die letzte Wirklichkeit erkennen, der es verantwortlich [ist] und wird gerade von ihm die Befreiung vom Gesetz zur verantwortlichen Tat erfahren. Um Gottes und des Nächsten willen gibt es eine Freiheit ... vom ganzen göttlichen Gesetz, eine Freiheit die dieses Gesetz durchbricht, aber nur um es so neu in Kraft zu setzen. Die Suspension des Gesetzes kann nur seiner wahren Erfüllung dienen" (298).
Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt
"Das Wissen um Gut und Böse scheint das Ziel aller ethischen Besinnung zu sein." Doch hat "die christliche Ethik den Ursprung aller ethischen Fragestellung zur Sprache zu bringen" und sie so zu kritisieren (301): "Die christliche Ethik erkennt schon in der Möglichkeit des Wissens um Gut und Böse den Abfall vom Ursprung. Der Menscch im Ursprung weiß nur eines: Gott" (301f.).
Doch im "Wissen um Gut und Böse versteht der Mensch sich ... in seinen eigenen Möglichkeiten... Um Gut und Böse kann der Mensch nur gegen Gott wissen."
So "begreift sich der Mensch als Ursprung von gut und Böse. Eritis sicut deus... Aus der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit ist eine geraubte Gottgleichheit geworden" (302).
"Mit dem Raube des Ursprungs hat der Mensch ein Geheimnis Gottes in sich hinein genommen, ... an dem er zugrundegeht... Statt allein den ihm guten Gott zu wissen und alles in ihm, weiß er nun sich selbst als Ursprung von Gut und Böse, statt sich die Wahl und Erwählung Gottes gefallen zu lassen, will er selbst wählen, Ursprung der Erwählung sein..." (303). "Er ist geworden wie Gott. Aber gegen Gott. Darin besteht der Betrug der Schlange" (303f.).
So hat "der um Gut und Böse wissende Mensch sich endgültig vom Leben, wie es aus der Wahl Gottes kommt, losgerissen" und "ist dem Tode überantwortet... Sein Leben ist nun Entzweiung mit Gott, mit den Menschen, mit den Dingen, mit sich selbst."
"... Er erkennt, daß er nackt ist. Ohnde den Schutz, die Verhüllung, die Gott und der andere Mensch für ihn bedeuten, findet er sich bloßgestellt. Scham entsteht" (304). Dabei "schämt sich der Mensch der verlorenen Einheit mit Gott und dem anderen Menschen" (304f.).
"'Da machten sie sich Schurze'. Scham sucht Verhüllung als Überwindung der Entzweiung" (305f.). "Verhüllung ist notwendig, weil sie die Scham und damit die Erinnerung an die Entzweiung mit dem Ursprung wachhält, außerdem weil der Mensch nun eben als der Entzweite, der er ist, sich selbst aushalten und in der Verborgenheit leben muß..." Wo "das Verlangen nach Wiederherstellung der verlorenen Einheit ... sich gewaltsam Bahn bricht, in der Geschlechtsgemeinschaft, in der Mensch und Mensch ein Fleisch werden (1 Mos 2,24) und in der Religion, in der der Mensch seine Einheit mit Gott sucht, wo also die Verhüllung durchbrochen wird, dort schafft sich die Scham gerade die allertiefste Verborgenheit" (306).
Weil Scham das Ja und das Nein zu der Entzweiung enthält, darum lebt der Mensch zwischen Verhüllung und Enthüllung, ... zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft... Immer ... muß beides dasein" (307).
"... Überwindung der Scham kann es nur geben, wo die ursprüngliche Einheit wieder[her]gestellt ist, wo der Mensch wieder bekleidet wird durch Gott und den anderen Menschen, durch die 'himmlische Behausung' ... (2 Kor 5,2 ff)... Überwindung der Scham gibt es nur in der Beschämung durch die Vergebung der Sünde, das heißt durch die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott und dem Menschen. Das wird Ereignis in der Beichte vor Gott und vor dem anderen Menschen. Die Bekleidung des Menschen mit der Vergebung Gottes ... ist in dem Vers zusammengefaßt: 'Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid.'"
"Während der Mensch in der Scham an seine Entzweiung mit Gott und dem Menschen erinnert wird, ist das Gewissen das Zeichen der Entzweiung des Menschen mit sich selbst...; es setzt die Entzweiung mit Gott und Mensch schon voraus und signalisiert erst die Entzweiung des mit dem Ursprung entzweiten Menschen mit sich selbst" (308). Dabei hat "der Gewissensruf ausschließlich den Charakter des Verbotes ...: 'Du sollst nicht .. Du hättest nicht sollen...'" ... Daß auch im Erlaubten, das für das Gewissen mit dem Guten identisch ist, der Mensch in der Entzweiung mit seinem Ursprung steht, das registriert das Gewissen nicht mehr..."
"Das Gewissen gibt sich als die Stimme Gottes und als die Norm des Verhältnisses zum anderen Menschen aus... Diese Umkehrung ist der Anspruch des Gottgleichgewordenen Menschen in seinem Wissen um Gut und Böse. Der Mensch ist zum Ursprung von Gut und Böse geworden" (309). Damit "ist der Mensch Richter über Gott und Mensch geworden, wie er Richter über sich selbst ist."
Hiermit "tritt der Mensch in die Reflexion auf sich selbst ein. Sein Leben ist nun ein Sich selbst verstehen, wie es im Ursprung sein Gott-wissen war..."
"Alles Erkennen gründet sich nun auf die Selbsterkenntnis... So entzweit sich dem mit Gott entzweiten Menschen alles: das Sein und das Sollen, ... Wissen und Tun ..." (310).
Die entscheidende Wende im NT besteht nun darin: "Nicht der Zerfall des Menschen mit Gott, mit den Menschen, mit den Dingen, mit sich, sondern die wiedergefundene Einheit, die Versöhnung ist der Grund, von dem aus gesprochen wird..."
"Es ist die Begegnung Jesu mit den Pharisäern, in der das Alte und das Neue ins hellste Licht treten..." Der Pharisäer ist der Mensch "der Entzweiung schlechtin ..., jener in höchstem Maße bewunderungswürdige Mensch, der sein ganzes Leben unter sein Wissen um Gut und Böse stellt, der ein ebenso harter Richter seiner selbst wie seines Nächsten ist - zur Ehre Gottes" (311). Dabei will man "nicht mit dem Kopf durch die Wand, besondere Situationen und Notlagen erfahren besondere Berücksichtigung, Nachsicht und Milde werden durch den Ernst des Wissens um Gut und Böse nicht ausgeschlossen, sondern sie sind vielmehr ein Ausdruck dieses Ernstes... Da ist man sich der eigenen Verfehlungen, der Pflicht zur Demut und Dankbarkeit vor Gott wohl bewußt" (312).
Doch: "So wie die Pharisäer nicht anders können als Jesus vor Konfliktsituationen zu stellen, so kann Jesus nicht anders, als eben diese Situation nicht zu akzeptieren. Wie die Frage und die Versuchung der Pharisäer aus der Entzweiung des Wissens um Gut und Böse kommt, so kommt die Antwort Jesu aus der Einheit mit Gott, mit dem Ursprung, aus der überwundenen Entzweiung des Menschen mit Gott..."
Daher scheint Jesus oft "auf etwas ganz anderes zu antworten als er gefragt wurde, er scheint an der Frage vorbeizusprechen und spricht gerade so ganz auf den Fragenden hin... Diese Freiheit, mit der Jesus alle Gesetze unter sich läßt, muß dem Pharisäer als Zerstörung aller Ordnung, aller Frömmigkeit, alles Glaubens erscheinen" (314). Sie gibt Jesus "etwas eigentümlich Gewisses, ... Überwundenes und Überwindendes", was darin begründet ist, daß es für ihn "niemals mehrere Möglichkeiten, sondern immer nur Eines gibt. Dieses Eine nennt Jesus den Willen Gottes... Es gibt nur einen Willen Gottes. In ihm ist der Ursprung wiedergewonnen, in ihm ist Freiheit und Einfalt alles Tuns begründet."
Einige Auslegungen von Worten Jesu sollen dies verdeutlichen:
"'Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet' (Mt 7,1). Das ist nicht die Ermahnung zu Vorsicht und Milde im Urteil über die Mitmenschen, wie sie auch die Pharisäer kannten, sondern es ist der Stoß ins Herz des um Gut und Böse wissenden Menschen", der sich in seinem Wissen um Gut und Böse zum Richter aufschwingt, wobei "jedes Urteil das er richtend fällt, ihn selbst trifft. Indem Jesus den Menschen als Richter angreift, fordert er die Umkehr seines ganzen Wesens, stellt er ihn gerade in der äußersten Realisierung seines Guten als Gottlosen, als Sünder hin."
Denn: "Das Urteil über den anderen Menschen setzt immer schon die Entzweiung mit ihm voraus, es tritt hindernd vor das Tun. Das Gute, das Jesus meint, aber besteht ganz im Tun, nicht im Urteilen... Das Tun des Pharisäers ist dadurch ein Richten der anderen Menschen, daß es die Öffentlichkeit des Urteils - und sei es nur die Öffentlichkeit vor dem eigenen Ich - sucht" (316). "In diesem Sinne also, der in der entzweiten Existenz begründet ist, - nicht im Sinne bewußter Böswilligkeit - ist das Tun des Pharisäers ... Scheintun, Heuchelei" (316f.). Es ist ein Tun, das aus der Entzweiung kommt und Entzweiung schafft. Diese "Selbstentzweiung des über die anderen zu Gericht sitzenden Menschen" führt auch zu psychologischen Erscheinungen wie z.B. "heimlicher Verlogenheit", doch "das alles darf nicht zu einer Verkennung des wahren Sachverhaltes führen" (317): "... weil das Richten selbst der Abfall ist, darum ist es böse und darum treibt es auch böse Früchte im menschlichen Herzen... Der Pharisäer selbst kann sich nur in seinen Tugenden und Untugenden, nicht aber in seinem WEsen, in seinem Abfall vom Ursprung erkennen... Im Munde Jesu ist das 'Richtet nicht' der Ruf dessen, der die Versöhnung ist, an den entzweiten Menschen, der Ruf zur Versöhnung."
Doch "gibt es ... auch ein Richten, das ein - echtes - Tun des Menschen ist, das heißt ein 'Richten', das aus der vollzogenen Einheit mit dem Ursprung, mit Jesus Christus, herkommt... Es schaft daher auch nicht weitere Entzweiung, sondern Versöhnung. Wie das Gericht Jesu gerade darin bestand, daß er nicht kam, um zu richten, sondern um zu retten" (318), so wird ein aus der Versöhnung herkommendes Richten "im brüderlichen Zurechthelfen ... bestehen" (318f.). "Um Christus wissend" steht der versöhnte Mensch "selbst nicht mehr als der Wählende zwischen Gut und Böse, also in der Entzweiung, sondern als der Erwählte, der garnicht mehr wählen kann, sondern schon gewählt hat indem er erwählt ist, in der Freiheit und Einheit des Tuns des Willens Gottes. Er steht damit in einem neuen Wissen, in dem das Wissen um Gut und Böse überwunden ist." Dies gilt für den, der "Gott in seiner Offenbarung in Jesus Christus weiß".
"'Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf daß dein Almosen verborgen sei' (Mt 6,3f). Auch der Pharisäer wußte, daß er sich seines Almosens nicht zu rühmen habe" (319f.) "... Jesus trifft mit seinem Wort nicht die Prahlerei oder die Selbstgefälligkeit dessen, der Gutes getan hat, sondern er stößt wiederum ins Herz des in der Entzweiung lebenden Menschen. Er verbietet dem, der Gutes tut, das Wissen um dieses Gute... Das Wissen um Jesus geht ohne jede Reflexion auf sich selbst gänzlich im Tun auf" (320).
"Im Gleichnis vom jüngsten Gericht Mt 25,31 ff findet das Gesagte seine Ergänzung und seinen Abschluß. Wenn Jesus Gericht halten wird, dann werden die Seinen nicht wissen, daß sie ihn gespeist, getränkt, gekleidet und besucht haben. Sie werden ihr Gutes nicht kennen, Jesus wird es ihnen aufdecken" (321).
Dabei "wäre ... die in Jesus vollzogene Aufhebung des Wissens um Gut und Böse wie auch alles über Freiheit und Einfalt Gesagte dort völlig mißverstanden, wo man sie als psychologisch vorfindliche Gegebenheiten auffaßt... Psychologisch gesehen ist es in der Tat unmöglich, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut... Der Grund dafür ist, daß die psychologische Betrachtung selbst schon immer unter dem Gesichtspunkt der Entzweiung steht." Die Bibel spricht sogar "von einem durchaus berechtigten Fragen nach dem Willen Gottes und von einer ebenso berechtigten und notwendigen Selbstprüfung", ohne daß dies dem Gesagten widerspricht (322):
"'Laßt euch umgestalten durch Erneuerung eures Sinnes, um zu prüfen, was der Wille Gottes sei' (R 12,2)", vgl. Phil 1,10; Röm 2,18; Eph 5,9f. "Die Vorstellung" von der "Erkenntnis des Willens Gottes in der Form der Intuition" wäre "jenes psychologisierende Mißverständnis der Einfalt des neuen Lebens... Der Wille Gottes kann sehr tief verborgen liegen" und ist "auch kein von vornherein festliegendes System von Regeln" (323). "Herz, Verstand, Beobachtung, Erfahrung müssen bei dieser Prüfung [des Willens Gottes] miteinanderwirken."
Voraussetzung dabei ist, "daß es dieses Prüfen nur aufgrund einer 'Metamorphose', ... aufgrund einer 'Erneuerung' des Sinnes (R 12,2) ... gibt." Dabei handelt es sich um "die Überwindung der Gestalt des abgefallenen Menschen, Adam, und um die Gleichgestaltung mit der Gestalt des neuen Menschen, Christus" (324). "Es ist die Gestalt des Kindes Gottes, das in der Einheit mit dem Willen des Vaters lebt in der Gleichgestalt des einen wahren Sohnes Gottes." Es ist der Mensch, "dem jedes eigene Wissen um Gut und Böse genommen ist ..., der bereits in der Einheit des Willens Gottes lebt... Prüfen, was Gottes Wille ist, ist nur möglich aufgrund des Wissens um Gottes Willen in Jesus Christus." Und weil diese "Metamorphose... etwas lebendiges ist und nicht etwas ein für allemal Gegebenes, ... darum entsteht mit jedem neuen Tag die Frage, wie ich heute und hier und in dieser Situation in diesem neuen Leben mit Gott, mit Jesus Christus bleibe und bewahrt werde" (325). Das Prüfen geschieht in dem in Christus gegebenen Wissen "um die schon geschenkte gnädige Einheit mit dem Willen Gottes uns sucht dieses Wissen täglich neu zu befestigen im konkreten Leben..."
"Verstand, Erkenntnisvermögen, aufmerksame Wahrnehmung des Gegebenen treten hier in lebhafte Aktion... Es wird also der ganze Apparat menschlicher Kräfte in Bewegung gesetzt sein, wo es darum geht, zu prüfen, was Gottes Wille sei" (326). "Es wird der Glaube dasein, daß Gott dem, der ihn demütig fragt, seinen Willen gewiß zu erkennen gibt; es wird dann nach allem ernsten Prüfen auch die Freiheit zur wirklichen Entscheidung da sein" in der "Zuversicht, daß nicht der Mensch sondern Gott selbst durch solches Prüfen hindurch seinen Wilen durchsetzt"; sie befiehlt sich dem gnädigen Gericht Jesu Christi an und "wird das eigene Gute bis zu seiner Zeit verborgen sein lassen..."
"So steht neben dem Wort Jesu, die linke Hand nicht wissen zu lassen, was die rechte tut, die Ermahnung des Paulus, sich selbst auf seinen Glauben und auf sein Werk zu prüfen" (II Kor 13,5; Gal 6,4). "Die Einfalt des Nichtwissens um das eigene Gute weil man im Tun ganz hingenommen nur auf Jesus Christus blickt, bedeutet nicht Leichtfertigkeit, Unachtsamkeit in bezug auf sich selbst. Es gibt nicht nur eine pharisäische, sondern auch eine christliche Selbstprüfung ..." Doch: "Anders kann sich der Christ ... nicht mehr prüfen als aufgrund dieser für ihn entscheidenden Wirklichkeit, daß Jesus Christus in sein Leben getreten" ist (327) und den Platz des Wissens "um Gut und Böse eingenommen hat." Der Blick geht vom Christen selbst weg auf Christus. Die "Selbstprüfung aber ist darum nicht überflüssig, weil ja Jesus Christus wirklich in uns ist und sein will und weil sich dieses Sein Jesu Christi in uns nicht einfach mechanisch vollzieht, sondern gerade in dieser Selbstprüfung immer wieder ereignet und bewährt" (328f.).
"Es ist deutlich, daß die einzig angemessene Haltung des Menschen vor Gott das Tun seines Willens ist... Im Tun allein geschieht die Unterwerfung unter Gottes Willen" und unter den "gnädigen Richter"; dies nimmt dem Menschen "jede Selbstrechtfertigung vor Gott, die auf dem eigenen Wissen um Gut und Böse begründet ist begründet ist" (329).
"Wenn die Schrift das Tun fordert, so weist sie eben damit den Menschen nicht an eigenes Vermögen, sondern an Jesus Christus selbst. 'Ohne mich könnt ihr nichts tun' (Joh 15,5)... All das Vielerlei, das sich sonst den Anschein des Tuns gibt, alle die unzähligen Verrichtungen sind im Urteil Jesu, als wäre nichts getan..."
Dies wird in der Schrift noch durch "mehrere Abgrenzungen ... vor Mißverständnissen geschützt":
Nach Jak 4,11 gibt es "dem Gesetz gegenüber zwei Verhaltungsweisen, das Richten und das Tun; beide schließen einander aus. Der Richtende versteht das Gesetz als Maßstab, den er gegen andere handhabt, und er versteht sich selbst als den, der für die Durchsetzung des Gesetzes verantwortlich ist..." Der Richtende "verklagt und richtet in Wahrheit das Gesetz selbst; denn er mißtraut ihm, daß es die Kraft des lebendigen Wortes Gottes besitze, sich selbst durchzusetzen und Geltung zu verschaffen... Der aufgrund seines Wissens um das Gesetz zum Richter seines Bruders, schließlich auch des Gesetzes Gewordene, kommt nie mehr zum Tun des Gesetzes" (330). "Der 'Täter des Gesetzes' ... unterwirft sich dem Gesetz, niemals begegnet ihm das Gesetz anders als daß es ihn persönlich zum Tun aufruft". Nur so "wird dem Gesetz sein Recht und seine Kraft gelassen, die es auch am Bruder erweisen wird."
"Das Tun setzt freilich das Hören des Gesetzes voraus... Wo aber das Hören gegenüber dem Tun verselbständigt wird und irgendein eigenes Recht bekommt, dort ist bereits das Tun schon wieder aufgelöst." Das Hören muß "im selben Augenblick zum Tun" werden (Jak 1,22).
"Zu voller Klarheit kommt das hier Gemeinte durch das scheinbar genau das Gegenteil besagende Wort Jesu an Maria und Martha (Luk 10,38ff)... Hier gibt Jesus in aller Deutlichkeit dem Hörer gegenüber dem Täter recht... Denn ebensowenig wie sich das Hören gegenüber [dem Tun] verselbständigen läßt, darf das Tun sich gegenüber dem Hören selbständig machen... Eins ist not - nicht hören oder tun, sondern beides in einem, das heißt in der Einheit mit Jesus Christus sein und bleiben, ... von ihm Wort und Tat empfangen" (333).
"'Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel' (Mt 7,21)... Man hat auch hier nicht ohne weiteres an bewußte Heuchelei zu denken, ... vielmehr mag dieses Bekenntnis durchaus aus persönlich aufrichtigem Herzen kommen. Es mag mit diesem tapferen Bekennen ein ebenso tapferes und hingebendes Tun verbunden sein... Und dennoch wird Jesus dieses Bekennen und Tun, eben weil es aus dem eigenen Wissen um Gut und Böse kommt, verwerfen" (334).
I Kor 13,2.3: "Hier fällt das entscheidende Wort, an dem sich der Mensch in der Entzweiung vom Menschen im Ursprung scheidet: die Liebe... Ohnde diese 'Liebe' zerfällt alles und ist alles verwerflich, in dieser Liebe ist alles geeint und alles Gott angenehm. Was ist diese Liebe?" (335). "... Alles was wir Liebe zu nennen gewöhnt sind, was in den Abgründen der Seele und in der sichtbaren Tat lebt, ja selbst was aus dem frommen Herzen an brüderlichem Dienst am Nächsten hervorgeht, - kann ohne 'Liebe' sein" (335f.). "Liebe ist auch nicht die unmittelbare Personbeziehung ... im Gegensatz zum Gesetz des Sachlichen... Eine Liebe, die nur das Gebiet der persönlichen menschlichen Beziehungen umfaßt, aber vor dem Sachlichen kapituliert, ist niemals die Liebe des Neuen Testaments" (336).
Das liegt vor allem daran, daß "alles, was Menschen als Liebe verstehen und üben können, immer nur als menschliches Verhalten innerhalb der gegebenen Entzweiung denkbar ist".
Die Antwort der Bibel auf die Frage, was Liebe sei, lautet:
"Gott ist Liebe (1 Joh 4,16). Dieser Satz ist zunächst um der Klarheit willen mit der Betonung des Wortes Gott zu lesen... Gott ist Liebe, das heißt nicht ein menschliches Verhalten... Was Liebe ist, weiß nur, wer Gott kennt, nicht aber umgekehrt weiß man erst - und zwar von Natur -, was Liebe ist und daher dann auch, was Gott ist... So ist Liebe Offenbarung Gottes. Offenbarung Gottes aber ist Jesus Christus... Was Liebe ist, erkennen wir allein in Jesus Christus und zwar in seinem Tode für uns. 'Daran haben wir erkannt die Liebe, daß er sein Leben für uns gelassen hat' (1 Joh 3,16)" (337).
Für die Offenbarung der Liebe Gottes in Christus gilt: "Nicht was er tut und leidet, sondern was er tut und leidet, ist Liebe. Liebe ist immer Er selbst. Liebe ist immer Gott selbst." Es geht also nicht um eine abstrakte Definition von Liebe, sondern "das konkrete Tun und Leiden dieses menschen Jesus Christus" zeigt, was Liebe ist (338). Daraus folgt, "daß alles natürliche Denken über die Liebe nur soweit Wahrheit und Wirklichkeit hat, als es an diesem seinem Ursprung, also an der Liebe, die Gott selbst in Jesus Christus ist, teilhat."
Ferner besteht die Liebe "in der Versöhnung des Menschen mit Gott in Jesus Christus. Die Entzweiung des Menschen mit Gott, mit dem anderen Menschen, mit der Welt und mit sich selbst ist zu Ende. Der Ursprung ist ihm wiedergeschenkt."
Die Liebe ist also eine "Tat Gottes am Menschen, durch die die Entzweiung, in der der Mensch lebte, überwunden ist." Diese Tat in Christus ist "etwas, was am Menschen geschieht, etwas Passives", ein "Erleiden der Umwandlung der gesamten Existenz durch Gott".
"In welchem Sinne kann dann aber noch von der Liebe als einem Tun des Menschen gesprochen werden, von der Liebe des Menschen zu Gott und zum Nächsten ...?" Antwort: "'Wir lieben ihn, denn er hat uns zuerst geliebt' (1 Joh 4,19), das bedeutet, daß unsere Liebe zu Gott ausschließlich auf dem Geliebtwerden durch Gott beruht" (339), weshalb "unser Lieben nichts anderes sein kann als das Sichgefallenlassen der Liebe Gottes in Jesus Christus." Daher ist "die menschliche Liebe" nicht "ein der göttlichen Liebe gegenüber selbständiges, freies Tun des Menschen ... Vielmehr gilt auch für alles über die menschliche Liebe zu Sagende, daß Gott die Liebe ist. Es ist die Liebe Gottes ..., mit der der Mensch Gott und den Nächsten liebt. Darin also bleibt die Liebe des Menschen rein passiv..."
Dabei ist der "Begriff der Passivität" nicht psychologisch, sondern theologisch zu verstehen (340). Es geht nicht um das "Gedanken, Worte und Taten ausschließende Ausruhen in einer Liebe Gottes" (340f.), sondern: "Als ganze Menschen, als denkende und handelnde Menschen sind wir in Christus von Gott geliebt, mit Gott versöhnt. Als ganze Menschen, denkend und handelnd, lieben wir Gott und die Brüder" (341).
Kirche und Welt I.
Es war "eine der erstaunlichsten Erfahrungen ... in den Jahren der Bedrängnis alles Christlichen" (342), daß eine "Art Bundesgenossenschaft" zwischen "den Christen" (343) und Vertretern menschlicher Werte wie "Vernunft", "Recht", "Bildung und Humanität", "Freiheit, Toleranz und Menschenrechte" (342) zustandekam. Dabei suchten die Vertreter dieser Werte bei der Kirche Zuflucht und nicht umgekehrt (343). Dies war keine reine "Zweckgemeinschaft, die mit der Beendigung des Kampfes wieder aufgelöst würde. Das Entscheidende ist vielmehr, daß eine Rückkehr zum Ursprung stattfand" (343f.). Die genannten Werte "suchten und fanden in ihrem Ursprung neuen Sinn und neue Kraft. [Absatz] Dieser Ursprung ist Jesus Christus... Damit ist gesagt, daß dem Antichristen gegenüber nur eines Gewalt und Bestand hat: Christus selbst. Nur was an ihm teilhat, kann bestehen und überwinden. Er ist die Mitte und die Kraft der Bibel, der Kirche, der Theologie, aber auch der Humanität, der Vernunft, des Rechtes, der Bildung." Dabei war das Motiv für die Rückkehr dieser Werte zum Ursprung in Christus "ein weithin unbewußtes Wissen".
Biblischer Beleg hierfür ist die Stelle "'Wer nicht wider uns ist, der ist für uns' (Mk 9,40)... Wo der Name Jesu noch genannt wird - und sei es in Unwissenheit ... - Dort schafft sich dieser Name selbst einen Raum, ... dort soll man nicht hindernd eingreifen, sondern den Namen Jesu Christi wirken lassen... Wo der Name Jesu Christi genannt wird, dort ist er Schutz und Anspruch..."
Das andere Wort Jesu - "'Wer nicht für mich ist, der ist wider mich' (Mt 12,30)" (345) ist nur für ein abstraktes Verständnis "ein unauflöslicher Widerspruch". Die "lebendige Erfahrung" zeigte: "Als sich unter dem Druck antichristlicher Gewalten kleine bekennende Gemeinden sammelten, die ... eine klare Entscheidung für oder wider Christus suchen mußten" und so "die Schar der bekennenden Christen immer kleiner" wurde, empfing sie gerade dadurch "eine innere Freiheit und Weite, ... da sammelten sich um sie Menschen, die aus weiter Ferne kamen und denen sie ihre Gemeinschaft und ihren Schutz nicht versagen konnte..." (346).
"Beide Worte gehören notwendig zusammen, das eine als der Ausschließlichkeitsanspruch, das andere als der Ganzheitsanspruch Jesu Christi. Je ausschließlicher, desto freier. Der isolierte Ausschließlichkeitsanspruch aber führt zu Fanatismus und Sektiererei, der isolierte Ganzheitsanspruch zur Verweltlichung und Selbstpreisgabe der Kirche" (346f.).
So ist "der gekreuzigte Christus ... Zuflucht, Rechtfertigung, Schutz und Anspruch geworden für die ins Leiden gekommenen höheren Güter und ihre Verfechter. Es ist der in seiner Gemeinde verfolgte und leidende Christus... Das Kreuz Christi macht beide Worte wahr" (348).
"'Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer' (Mt 5,10)." Hier ist nicht ausdrücklich "von der Verfolgung um Jesu Christi willen ... die Rede", sondern allgemein von den "um einer gerechten ... Sache willen Verfolgten". Es geht also nicht nur um das Inkaufnehmen von "Leiden um des ausdrücklichen Christusbekenntnisses willen", sondern "Jesus nimmt sich derer an, die um einer gerechten Sache willen leiden, auch wenn es nicht gerade das Bekenntnis seines Namens ist, er nimmt sie in seinen Schutz, in seine Verantwortung, in seinen Anspruch hinein" (349).
"In festgefügten Zeiten, in denen das Gesetz regiert ..., sind es die Gestalten des Zöllners und der Dirne, an denen das Evangelium Jesus Christi sich den Menschen deutlich macht", während in gesetzlosen Zeiten "sich das Evangelium eher an den Gestalten der wenigen übriggebliebenen Rechtlichen, Wahrhaftigen, Menschlichen erweisen" wird. Daraus folgt: "Christus gehört dem Bösen und dem Guten, er gehört ihnen beiden nur als Sündern, das heißt als in ihrem Bösen und in ihrem Guten vom Ursprung Abgefallenen, er ruft sie zum Ursprung zurück, daß sie nicht mehr Böse und Gute, sondern gerechtfertigte und geheiligte Sünder seien." Doch ist noch die Frage zu klären, "welches das Verhältnis Jesu Christi zu den Guten und dem Guten ist."
Im Nachdenken der Kirche "über das Verhältnis Jesu Christi zu den Bösen und zum Bösen" (350) war der "Gute ... entweder der Pharisäer und Heuchler, der von seiner Bosheit überzeugt werden mußte oder es war der aus seinem Bösen zu Christus Bekehrte und nun durch ihn zu guten Werken Instandgesetzte." Doch: "Über die Bekehrung des Guten zu Christus wußte man wenig zu sagen" (351).
Zur Beantwortung dieser Frage soll der "Begriff des Guten zunächst in seiner größten Weite" verstanden werden, "also einfach in seinem Gegensatz zum Lasterhaften, Gesetzlosen, Anstößigen, zur öffentlichen Übertretung des sittlichen Gesetzes"; doch kann auch nicht "das Gute einfach als Vorstufe des Christlichen" gelten, "wobei der Aufstieg vom Guten zum Christlichen sich mehr oder weniger ohne Bruch vollziehen sollte..." Doch ist "im Laufe des 19. Jahrhunderts vereinzelt und dann besonders in den letzten 20 Jahren "eine ebenso gefährliche Entstellung des Evangeliums im umgekehrten Sinne ... vorgetragen worden. An die Stelle der Rechtfertigung des Guten ist die Rechtfertigung des Bösen getreten...; "die göttlich verzeihende Liebe Jesu zu der großen Sünderin, zu der Ehebrecherin, zum Zöllner wurde verzerrt zu einer - psychologisch oder politisch motivierten - christlichen Sanktionierung der unbürgerlichen 'Randexistenzen'" (352). "Aus dem Evangelium der Sünder, um dessen Gewalt es ging, war, ohne daß man es wollte, eine Empfehlung der Sünde geworden. Das Gute - in seinem bürgerlichen Sinn - verfiel dem Gelächter" (353).
Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt
1. Angesichts der immensen "sozialen, wirtschaftlichen, politischen etc. Probleme der Welt" und dem Versagen der "vorhandenen ideologischen und praktischen Lösungsangebote" hat auch die Kirche versagt (354). Deshalb soll "die Kirche ... Lösungen für die ungelösten Fragen der Welt bieten und damit ihren Auftrag erfüllen und ihre Autor(in)ität wiederherstellen..."
2. Wenn man jedoch meint, "daß das Christentum für alle sozialen, politischen Fragen der Welt eine Antwort hätte, ... so ist das offenbar ein Irrtum. Meint man, daß es vom Christentum her zu den weltlichen Dingen etwas Bestimmtes zu sagen gibt, so ist das richtig" (355).
a. Jesu "Wort ist nicht Antwort auf menschliche Fragen und Probleme, sondern die göttliche Antwort auf die göttliche Frage an den Menschen", die seine "Entzweiung" überwindet. "Sein Wort ist ... nicht Lösung, sondern Erlösung." Damit "bringt er aber auch wirklich die Lösung aller menschlichen Probleme - 'es wird alles zufallen' - nur von ganz anderer Warte her."
b. "Wer sagt uns eigentlich daß alle weltlichen Probleme gelöst werden sollen und können? Vielleicht ist Gott die Ungelöstheit dieser Probleme wichtiger als ihre Lösung, nämlich als Hinweis auf den Sündenfall des Mencshen und auf Gottes Erlösung" (356).
c. Der gegen irgend[welche] Übel organisierte Kampf der Kirchen ... führte zu schlimmeren Erfahrungen als die Zeit vorher..." (357).
d. "Das Denken, das von den menschlichen Problemen ausgeht und von dorther nach Lösungen fragt, muß überwunden werden, es ist unbiblisch. Nicht von der Welt zu Gott, sondern von Gott zur Welt geht der Weg Jesu Christi und daher der Weg alles christlichen Denkens..."
3. "Das Wort der Kirche an die Welt kann kein anderes sein als das Wort Gottes an die Welt. Dieses heißt: Jesus Christus und das Heil in diesem Namen. In Jesus Christus ist Gottes Verhältnis zur Welt bestimmt"; daraus folgt: "... allein vom Evangelium von Jesus Christus aus ergibt sich das richtige Verhältnis der Kirche zur Welt.
a. "Das Wort der Kirche an die Welt ist das Wort vom Kommen Gottes ins Fleisch, ... der Ruf zur Umkehr" (358). "Es ist also Wort der Erlösung für alle Menschen."
b. "Das Wort von der Liebe Gottes zur Welt stellt die Gemeinde in ein verantwortliches Verhältnis zur Welt. In Wort und Handeln hat die Gemeinde der Welt den Glauben an Christus zu bezeugen..."
c. "Die Gemeinde erkennt und bezeugt Gottes Liebe zur Welt in Jesus Christus als Gesetz und als Evangelium. Beides läßt sich niemals trennen, aber auch niemals indentificieren..." Auch "gilt Gesetz und Evangelium in gleicher Weise der Welt und der Gemeinde".
1. "Damit ist bestritten, daß die Kirche zu der Welt von der Grundlage irgendwelcher mit der Welt gemeinsamer Vernunft- oder Naturrechtlicher Erkenntnisse her sprechen könnte, also unter zeitweiliger Absehung vom Evangelium..."
2. "folgt daraus die Bestreitung einer doppelten kirchlichen Moral, nämlich einer solchen für die Welt und einer solchen für die Gemeinde..."
"Das ganze Gesetz und das ganze Evangelium Gottes gehört in gleicher Weise allen Menschen" (359). Eine "doppelte christliche Moral ... geht von einem falschen Verständnis des Wortes Gottes aus": Bei den im Dekalog festgelegten "Rechtsordnungen" im Blick "auf Leben, Ehe, Eigentum, Ehre des Menschen" geht es "nicht um die Ordnungen an sich, sondern um den Glaubensgehorsam in ihnen" - erste und zweite Tafel gehören zusammen! Daher ist auch Jesu Aufruf zu Verzicht auf "Leben, Ehre, Eigentum ... um der Gemeinschaft mit Jesus willen nicht eine Aufstellung einer neuen absoluten Wertetafel" (360); "sondern es geht Jesus wie dem Dekalog um den konkreten Gehorsam gegen Gott; dabei kann gerade im Verzicht auf das eigene Recht, Eigentum, Ehre um Gottes willen der wahre Ursprung dieser Gaben, also Gott selbst, höher geehrt werden als im Bestehen auf dem eigenen Recht, das das Recht Gottes dann leicht verdunkeln könnte" (360f.).
"Es gibt also nicht eine doppelte Wertetafel, für die Welt und für die Christen, sondern es ist das eine Glauben und Gehorsam fordernde Wort Gottes, das allen Menschen gilt" (361). "Die Verkündigung der Kirche an die Welt kann immer nur Jesus Christus in Gesetz und Evangelium sein. Die zweite Tafel ist von der ersten nicht zu trennen" (361f.).
4. "Indem die Kirche Einzelne und Völker zum Glauben und Gehorsam gegen die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ruft, bezeichnet sie zugleich einen Raum, in dem dieser Glaube und dieser Gehorsam zum mindesten nicht unmöglich gemacht wird, dieser Raum ist durch die zehn Gebote abgesteckt... In allem, was die Kirche zu den Ordnungen der Welt zu sagen hat, kann sie nur Wegbereitend für das Kommen Jesu Christi wirken, wobei das wirkliche Kommen Jesu Christi selbst in dessen eigenster Freiheit und Gnade liegt" (362). "Also: allein aus der Christuspredigt folgt das Wort der Kirche über die irdischen Ordnungen, nicht aber gibt es eine eigene, an und für sich gültige Lehre der Kirche über ewige Ordnungen und Rechte der Natur und der Menschen, die auch unabhängig vom Glauben an Christus Anerkennung fordern könnte..."
5. Ist nun die Welt nur in Beziehung zu Christus zu sehen? Die Antwort ist Ja: "Gerade in der Erkenntnis, daß alles Geschaffene um Christi willen da ist und in ihm Bestand hat (Kon 1,16 f) ist die Welt und der Mensch erst ganz ernst genommen."
6. Gegenüber weltlichen Ordnungen ("zum Beispiel bestimmte Wirtschafts- und Sozialgesinnungen und -zustände") hat die Kirche "ein doppeltes Verhalten": Sie hat sich einerseits "in der Autor(in)ität des Wortes Gottes" von solchen falschen Ordnungen und Gesinnungen abzugrenzen (363), andererseits wird sie "in der Autor(in)ität christlicher Fachmänner ihren Beitrag zu einer Neuordnung geben können. Beide Aufgaben sind streng zu unterscheiden..."
7. Zum "Problem der Eigengesetzlichkeit der weltlichen Ordnungen": "... das Gesetz des in Jesus Christus offenbarten Gottes ist das Gesetz aller irdischen Ordnungen. Die Grenzen jeder Eigengesetzlichkeit werden in der kirchlichen Verkündigung des Wortes Gottes offenbar, die konkrete Gestalt des göttlichen Gesetzes in Wirtschaft, Staat etc. muß von denen erkannt und gefunden werden, die verantwortlich in Wirtschaft und Staat arbeiten", im Sinne einer "relativen Eigengesetzlichkeit".
8. "Vernunft - Gesetz des Geschaffenen - Seienden" (364).
Das "Ethische" und das "Christliche" als Thema
"Eine christliche Ethik wird mit der Frage zu beginnen haben, ob und inwieweit das 'Ethische' und 'das Christliche' sich überhaupt als Thema behandeln lassen" - beides ist durchaus fragwürdig.
Friedrich Theodor Vischer formuliert in seinem Buch "Auch Einer": "'Das Moralische versteht sich immer von selbst'" (365) - doch im Leben "mit den Tausenderlei 'Durchkreuzungen' des Großen und Prinzipiellen durch das Nebensächliche, Geringfügige, Zuwidere, Ärgerliche fertig zu werden, das ist etwas anderes."
"Das 'Ethische' als Thema hat seine bestimmte Zeit und seinen bestimmten Ort ... Es gehört zu den großen Naivetäten [sic], oder richtiger Torheiten, der Ethiker, das geflissentlich zu übersehen und von der Fiktion auszugehen als habe der Mensch in jedem Augenblick seines Lebens eine letzte unendliche Wahl zu treffen, als müsse jeder Augenblick des Lebens eine bewußte Entscheidung zwischen Gut und Böse sein" (367). "Das 'ethische Phänomen' ... ist in seinem Wesen mißverstanden, wenn man den Unbedingtheitscharakter des Soll-erlebnisses [sic] im Sinne eines ausschließlichen Totalitätsanspruchs versteht. Damit wäre die geschöpfliche Ganzheit des Lebens verletzt und zerstört" (368).
"Das ethische Phänomen ist ... ein Grenzereignis. Das 'Sollen' gehört ... dorthin, wo etwas nicht ist, sei es weil es nicht sein kann sei es weil es nicht gewollt wird" (368f.). In einer Bindung wie Ehe oder Familie tritt das Sollen zunächst nicht in Erscheinung. "Erst wo die Gemeinschaft zerbricht oder die Ordnung bedroht ist, meldet sich das Sollen zu Wort, um nach Wiederherstellung der Ordnung zu verstummen." Doch aus der "Erfahrung ..., ... daß jede Gemeinschaft im eigentlichen Sinne jederzeit im Zerbrechen ist, begleitet von nun an das Sollen als Bewußtsein der eigenen Grenze ... das menschliche Leben; es ist dies die profane Analogie der Erbsündenlehre... Das Sollen ist immer ein 'letztes' Wort. Wo es zum Thema gemacht wird", muß dies bedacht werden, und oft ist es daher besser, "daß es gar nicht zum Thema gemacht wird, 'weil es sich von selbst versteht'" (369).
"Nun gibt es unzweifelhaft Situationen und Zeiten, in denen das Moralische sich nicht von selbst versteht, sei es darum, weil es nicht getan wird, sei es, weil es in seinem Inhalt fragwürdig geworden ist. In solchen Zeiten wird das Ethische zum Thema" (369f.), werden die "Lebensprobleme ... auf große Grundlinien" zurückgeführt, die jedermann einsichtig sind. Doch sind dies "notwendige Ausnahmezustände" (370). "Zeiten in denen das Ethische zum Thema wurde und werden mußte, müssen Zeiten folgen, in denen sich das Moralische wieder von selbst versteht, in denen man sich nicht nur an den Grenzen, sondern in der Mitte und Fülle des täglichen Lebens bewegt... Das krampfhafte Festhalten des ethischen Themas in der Gestalt der Moralisierung des Lebens ist die Folge der Furcht vor der Fülle des täglichen Lebens und des Bewußtseins der Lebensuntauglichkeit, es ist die Flucht in eine Position neben dem wirklichen Leben" (371).
Daher kann "der Ethiker ... nicht ein Mensch sein, der immer besser als andere weiß, was und wie etwas zu tun ist; eine Ethik kann nicht ein Nachschlagewerk sein für garantiert einwandfrei moralisches Handeln..."
"Ethik und Ethiker reden nicht dauernd in das Leben hinein, aber sie machen auf die Störung und die Unterbrechung aufmerksam, die alles Leben von seiner Grenze her durch das Sollen erfährt. Sie sollen "dafür Raum schaffend dazu helfen, mitleben zu lernen", d.h. innerhalb der Grenzen des Sollens, nicht als Zuschauer, Beurteiler, Richter außerhalb der Lebensvorgänge" (372).
Weiter gilt: "Für das ethische Reden kommt es nicht nur auf die inhaltliche Richtigkeit der Aussage, sondern auch auf die konkrete Ermächtigung zu dieser Aussage an, nicht nur auf das, was geredet wird, sondern auch darauf, wer redet" (374).
"Ermächtigung zu ethischem Reden kann niemand sich selbst geben, sondern sie wird dem Menschen zuteil, sie fällt ihm zu, und zwar primär nciht aufgrund subjektiver Leistungen und Vorzüge, sondern aufgrund seiner objektiven Stellung in der Welt" (374f.), die ihm Autor(in)ität vermittelt (Alter, Vater, Herr, Lehrer, Schüler, Richter, Obrigkeit, Prediger). "Es ist die dem modernen Empfinden so überaus anstößige , aber dem Ethischen wesensmäßig innewohnende Tendenz von oben nach unten..."
"Das Ethische ... enthält in sich schon eine bestimmte Ordnung der menschlichen Gemeinschaft, es schließt bestimmte soziologische Autor(in)itätsverhältnisse in sich..." (375).
"Diese Sätze stehen in schroffem Gegensatz zu dem Verständnis des Ethischen als eines allgemeingültigen Vernunftprinzips, das die Aufhebung alles Konkreten, Zeit- und Ortsbestimmten, aller Ordnungs- und Autor(in)itätsverhältnisse und die Proklamation der Egalität aller Menschen aufgrund der angeborenen allgemeinen Menschenvernunft in sich schließt" (375f.). Dabei zeigte "die Geschichte der letzten 150 Jahre", daß dies "nicht nur nicht erreicht worden sondern geradezu in sein Gegenteil umgeschlagen ist. Das Ethische als das Formal-Allgemeingültig-Vernünftige endete ... im unbegrenzten Subjektivismus und Individualismus." Das Ethische ist eben nicht eine "je und je gänzlich neu fallende Entscheidung des Einzelnen" (376), auch nicht "ein formales Vernunftprinzip, sondern ein konkretes Befehlverhältnis, wie auch die formale Vernunft kein gemeinschaftsbildendes, sondern ein atomisierendes Prinzip ist und Gemeinschaft nur in den konkreten, unendlich mannigfaltigen Verantwortungsverhältnissen der Menschen füreinander besteht" (376f.). "Dennoch bleibt es gegenüber allen Versuchen das Ethische als die Sanktionierung von Privilegien zu mißbrauchen wichtig, das Korrektiv der Aufklärung im Sinne zu behalten."
"Allerdings darf uns die Furcht vor dem Mißbrauch des Ethischen nicht dazu führen, die dem Ethischen innewohnende Tendenz von oben nach unten einfach zu unterschlagen" (377). "... Das Obensein besteht nicht in dem subjektiven Wert dessen, der oben ist, sondern es hat seine Legitimation in einem konkreten objektiven Auftrag" (377f.). "... Die Ermächtigung gehört nicht zur Person, sondern zum Amt", womit "für das ethische Reden eine gewisse Dauer und Stabilität der Autor(in)itätsverhältnisse vorausgesetzt" ist. "Die Ermächtigung zu ethischem Reden erweist sich in der Treue, Bewährung, Dauer, Wiederholung."
Dazu muß das Oben- und Untensein innerlich bejaht und entschlossen durchgehalten werden (378). "Wo es nicht mehr gewagt wird oben zu sein und wo man es nicht mehr 'nötig zu haben glaubt' unten zu sein, ... dort entsteht kein echtes ethisches Reden mehr, dort bricht schon das ethische Chaos herein" (378f.).
Damit ist, nachdem es bisher umd eine "allgemeine Phänomenologie des Ethischen" ging, die "letzte Entscheidungsfrage" gestellt: "Welches ist der Grund der konkreten Ermächtigung zum ethischen Reden?" Hier gibt es zwei mögliche Antworten: eine positivistische aufgrund "der gegebenen Wirklichkeit", oder ein konstruiertes "System von Werten und Ordnungen ..., innerhalb dessen der Vater, der Meister, die Obrigkeit die Ermächtigung zugeschrieben erhalten." Dabei ist "die positivistische Begründung ein schwankender Boden ..., da sie über kein Kriterium jenseits der jeweils gegebenen Wirklichkeit verfügt". Außerdem fehlt bei ihr die gegenseitige Abgrenzung der "verschiedenen Autor(in)itäten" (379); vielmehr wird hier die faktische Macht als der einzige Maßstab für die Ermächtigung gelten." Der "Versuch einer Systematik der Autor(in)itäten und Ordnungen" wurde "immer wieder von christlichen Philosophen" unternommen. "Der Vorzug gegenüber dem Positivismus ist offenkundig: hier gibt es jenseits des positiv Gegebenen Kriterien für die Ordnung der Autor(in)itäten und ihrer Ermächtigungen. Diese Kriterien sind religiöser, genauer gesagt: christlicher Natur." Der Nachteil ist hier jedoch: Es "tritt an die Stelle des empirischen Positivismus ein metaphysischer Positivismus... Der Widerstreit, der sich aus der direkten göttlichen Einsetzung der mannigfaltigen Autor(in)itäten ergibt, wird aufgrund einer mehr oder weniger willkürlichen Entscheidung zugunsten des Absolutheitsanspruchs einer dieser Autor(in)itäten entschieden", was zu einer "Erstarrung des wirklichen Lebens" führt (380).
"Damit werden wir zu dem jenseits des 'Ethischen' liegenden, allein möglichen Gegenstand einer 'christlichen Ethik' geführt - nämlich zu dem 'Gebot Gottes'..."
Im Gegensatz zum Ethischen "umfaßt" das Gebot Gottes "das ganze Leben" und schließt auch das Ethische mit ein. "Das Gebot Gottes ist die einzige Ermächtigung zur ethischen Rede.
Das Gebot Gottes ist die totale und konkrete Beanspruchung des Menschen durch den barmherzigen und heiligen Gott in Jesus Christus..."
"Das Gebot Gottes ist nicht im Unterschied zum Ethischen die allgemeinste Zusammenfassung aller ethischen Sätze, ... nicht das Prinzip im Unterschied zu seiner Anwendung... Wäre es irgendetwas dergleichen, so hätte es aufgehört Gottes Gebot zu sein" (381), weil dann "unser Verständnis, unsere Auslegung, unsere Anwendung ausschlaggebend" wäre.
"Gottes Gebot ist Gottes ... konkrete Rede zum konkreten Menschen. Gottes Gebot läßt dem Menschen keinen Raum zur Anwendung, zur Auslegung, sondern nur zum Gehorsam oder zu Ungehorsam ..."
Dies heißt nun nicht, "daß wir in jedem Augenblick unseres Lebens durch irgendeine besondere unmittelbare göttliche Inspiration das Gebot Gottes zu wissen bekommen ..., denn die Konkretheit des göttlichen Gebotes besteht in seiner Geschichtlichkeit; es begegnet uns in geschichtlicher Gestalt" (382). Es heißt auch nicht, "daß wir ... den verschiedensten Ansprüchen der geschichtlichen Mächte ausgeliefert sind" (382f.), und zwar deshalb nicht, "weil Gott sein Gebot in bestimmter geschichtlicher Gestalt zu hören gibt."
These zur geschichtlichen Gestalt des Gebotes: "Gottes in Jesus Christus geoffenbartes Gebot ergeht an uns in der Kirche, in der Familie, in der Arbeit und in der Obrigkeit."
"Das bedeutet: Das Gebot Gottes wächst nicht aus der geschaffenen Welt heraus, sondern es kommt von oben nach unten" als Offenbarung in Jesus Christus. Es steht "fordernd und richtend jenseits" der geschaffenen Welt und "erteilt durch seine Setzung jene Ermächtigung zur ethischen Rede", d.h. "zur Verkündigung des göttlichen Gebotes" (383).
Daher kann keine der genannten "Autor(in)itäten sich selbst absolutsetzen." Vielmehr ist festzuhalten, daß "Kirche, Familie, Arbeit und Obrigkeit sich gegenseitig begrenzen" und unter der "Überlegenheit des Gebotes Gottes" stehen.
"Gottes in Jesus Christus geoffenbartes Gebot umfaßt das Ganze des Lebens, es bewacht nicht nur wie das Ethische die unüberschreitbaren Grenzen des Lebnes, sondern es ist zugleich die Mitte und Fülle des Lebens... es befreit zum unreflektierten Tun" (384). "Das Gebot Gottes wird zu dem Element, 'in' dem man lebt, ohne daß man sich dessen immer wieder bewußt würde... NIcht weil an den Grenzen meines Lebens ein drohendes 'Du sollst nicht ...' steht, sondern weil ich die in der Mitte und Fülle des Lebens mit begegnenden Gegebenheiten, Eltern, Ehe, Leben, Eigentum als Gottes heilige Setzung selbst bejahe, weil ich in ihnen lebe und leben will, ehre ich die Eltern, halte ich die Ehe, achte ich fremdes Leben und Eigentum" (385).
"Das Gebot Gottes ist die Erlaubnis als Mensch vor Gott zu leben.
Das Gebot Gottes ist Erlaubnis. Darin unterscheidet es sich von allen menschlichen Gesetzen, daß es die Freiheit - gebietet." Diese "Erlaubnis" ist nun nicht eine Wahlfreiheit des Menschen "frei von Gottes Gebot"; vielmehr "befreit sie von der quälenden Angst vor der jeweiligen Entscheidung und Tat zur Gewißheit der persönlichen Leitung und Führung durch das göttliche Gebot" (386). So lebt der Mensch "als Mensch, nicht nur als Subjekt ethischer Entscheidungen... Um dieses Leben geht es, wenn wir vom Gebot Gottes reden und eben von diesem Leben weiß das 'Ethische' nichts" (387). Das Ethische "will unter allen Umständen Klarheit, Geradlinigkeit, Reinheit, Bewußtheit der menschlichen Motive und Taten..." Doch das "Gebot Gottes ... läßt dem Fluß des Lebens seinen Lauf... Vor Gottes Gebot ist der Mensch nicht der Herkules am Scheidewege in Permanenz" (388). "Vielmehr darf der Mensch vor Gottes Gebot nun einmal schon wirklich auf dem Wege sein (nicht immer erst am Scheideweg stehen)... Gottes Gebot selbst kann nun in der Gestalt alltäglicher, scheinbar kleiner, bedeutungsloser Worte, Sätze, Winke, Hilfen dem Leben die einheitliche Richtung, die persönliche Führung geben."
Mit anderen Worten: "Nicht in der Vermeidung und Übertretung, nicht in der Qual des ethischen Konfliktes und der Entscheidung, sondern im frei bejahten selbstverständlichen Leben in der Kirche, in Ehe und Familie, in der Arbeit und im Staat hat das Gebot sein Ziel." Es geht "im Gebot Gottes um den positiven Gehalt" (389). Die Aufgabe des Ethischen ist es, "Raum abzustecken ... für das Mitleben in der ganzen Fülle des Lebens", während es "im Gebot um dieses 'Mitleben' selbst" geht, wodurch Freiheit ermöglicht wird. "Damit aber wird deutlich, daß das Gebot Gottes auch das 'Ethische' mit umfaßt... Aus der Mitte und Fülle des Lebens mit dem Gebot Gottes entsteht die Grenze, nicht umgekehrt."
Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate
"Unter 'Mandat' verstehen wir den konkreten in der Christusoffenbarung begründeten und durch die Schrift bezeugten göttlichen Auftrag, die Ermächtigung und Legitimierung zur Ausrichtung eines bestimmten göttlichen Gebotes, die Verleihung göttlicher Autor(in)ität an eine irdische Instanz. Unter Mandat ist zugleich die Inanspruchnahme, die Beschlagnahmung und Gestaltung eines bestimmten irdischen Bereiches durch das göttliche Gebot zu verstehen. Der Träger des Mandats handelt in Stellvertretung, als Platzhalter des Auftraggebers" (392f.).
Die Mandate "sind von oben her in die Welt hineingesenkt als Gliederungen ... der Christuswirklichkeit, das heißt der Wirklichkeit der Liebe Gottes zur Welt und zu den Menschen, die in Jesus Christus offenbart ist. Sie sind ... nicht irdische Mächte, sondern göttliche Aufträge... Das gilt ganz unabhängig von der Art und Weise des historischen Zustandekommens einer Kirche, einer Familie, einer Obrigkeit" (394).
"Das Gebot Gottes will dem Menschen also immer in einem irdischen Autor(in)itätsverhältnis, in einer durch ein klares Oben und Unten bestimmten Ordnung begegnen" (394f.). Zur "näheren Bestimmung" von Oben und Unten: "1.) Es ist nicht identisch mit einem irdischen Machtverhältnis... 2.) Ferner muß betont werden, daß das göttliche Mandat nicht nur das Oben, sondern eben auch das Unten schafft... 3.)" handelt es sich um "ein Verhältnis ... von Personen, die sich, ob oben [oder] unten, dem Auftrag Gottes und ihm allein beugen... Herr und Knecht schulden einander diejenige Ehre, die aus der jeweiligen Teilhabe am Gebot Gottes entspringt." "Mißbrauch" des Obenseins wie des Untenseins entsteht, "wenn die Begründung von beidem im Mandate Gottes nicht mehr erkannt wird" (395). "Die echte Ordnung des Oben und Unten lebt aus dem Glauben an den Auftrag von 'oben', an den 'Herrn' der 'Herren'. Dieser Glaube allein bannt die dämonischen Gewalten, die von unten her aufsteigen. Zerbricht dieser Glaube, dann bricht das ganze von oben her in die Welt gesenkte Gefüge wie nichts in sich zusammen" (396f.).
"Nur in ihrem Miteinander, Füreinander und Gegeneinander bringen die göttlichen Mandate der Kirche, der Ehe und Familie, der Kultur und der Obrigkeit das Gebot Gottes, wie es in Jesus Christus offenbart ist, zu Gehör... In diesem Mit- und füreinander aber ist eins durch das andere begrenzt" (397).
"Das Obensein steht also in einer dreifachen je verschiedener Weise wirksam werdenden Begrenzung, durch den Auftraggeber, Gott selbst, durch die anderen Mandate, und durch das Untensein. Diese Begrenzungen aber bedeuten zugleich seinen Schutz."
Das Gebot Gottes in der Kirche
"In zweierlei Weise begegnet uns Gottes Gebot in der Kirche: in der Predigt und in der Beichte beziehungsweise der Kirchenzucht, das heißt öffentlich und verborgen, an die versammelten Hörer der Predigt und an den einzelnen Menschen gerichtet. Beide Gestalten des göttlichen Gebotes gehören notwendig zusammen." Vernachlässigung der Beichte macht die Predigt zur "Verkündigung allgemeiner sittlicher Prinzipien" (398), der "jeder konkrete Anspruch mangelt." Überbetonung der Beichte produziert "eine gefährliche gesetzliche Kasuistik, die die Freiheit des Glaubens zerstört... Es ist kein Zweifel, daß in diesen beiden Möglichkeiten die Schwächen der evangelischen und der katholischen Kirche berührt sind."
"Gemeinsam ist den beiden Gestalten des göttlichen Gebotes in der Kirche, daß sie Verkündigung göttlicher Offenbarung sind. Das der Kirche gegebene Mandat ist das der Verkündigung... Das in Jesus Christus vom Himmel gekommene Wort will wiederkommen in der Gestalt menschlicher Rede" (399).
Dieses "Wort der Offenbarung Gottes in Jesus Christus" ist nicht menschlichen, sondern göttlichen Ursprungs. Es "setzt ..., indem es kommt, zugleich ein klares Gegenüber von Oben und Unten. Oben ist das Amt der Verkündigung, unten die hörende Gemeinde... Der Prediger ist ... der Exponent Gottes gegenüber der Gemeinde. Er ist ermächtigt zur Lehre, zur Ermahnung und Tröstung, Sünde zu vergeben, aber auch Sünde zu behalten. Er ist zugleich der Hirte, der Pastor, der Gemeinde. Dieses Amt ist unmittelbar von Jesus Christus gesetzt... in der Gemeinde, nicht durch die Gemeinde" (400). "Wo dieses Amt in der Gemeinde voll ausgeübt wird, dort werden alle anderen Ämter der Gemeinde, die doch nur dem Amt des göttlichen Wortes dienen können, lebendig; denn wo das Wort Gottes allein regiert, dort entsteht Glaube und Dienst" (400f.). Dies darf aber nicht dazu führen, daß die Gemeinde "unter Berufung ... auf das ellgemeine Priestertum aller Gläubigen, das Amt gering achtet ..."
"Das Amt der Verkündigung als Zeugnis von Jesus Christus ist gebunden an die heilige Schrift. Es muß hier der Satz gewagt werden, daß die Schrift wesentlich dem Predigtamt zugehört, der Gemeinde aber die Predigt... Der ausgelegte Predigttext gehört der Gemeinde und von ihm aus gibt es ein 'Suchen in der Schrift, ob es sich also verhält', (Akta 17[,11])" (401). "Es entspricht der Heiligkeit der Schrift zu erkennen, daß es eine Gnade ist, zu ihrer Auslegung und Verkündigung berufen zu sein, aber daß es auch eine Gnade ist, nur der Hörer der Auslegung und Verkündigung sein zu dürfen" (402).
"Aufgrund der heiligen Schrift verkündigt das Predigtamt Jesus Christus als den Herrn und Erretter der Welt. Es gibt keine legitime kirchliche Verkündigung, die nicht Christusverkündigung wäre" (402f.). "Weil ihr Wort sein einziges Recht, seine einzige Autor(in)isierung in dem Auftrag Jesu Christi hat, darum muß jedes Wort, das von dieser Autor(in)isierung absieht, leerer Schall sein... nur indem sie [die Kirche] ihr eigenstes Mandat erfüllt, kann sie legitim die Obrigkeit auf die Erfüllung ihres Mandates anreden."
Das "eine Gebot Gottes" verkündigt die Kirche, indem sie Jesus Christus als Herrn und Heiland seiner Gemeinde und aller Welt bezeugt und damit in seine Gemeinschaft ruft."
"Jesus Christus, der ewige Sohn beim Vater in Ewigkeit, - das bedeutet, daß nichts Geschaffenes gedacht und in seinem Wesen begriffen werden kann ohne Christus, den Mittler der Schöpfung... (Kol 1,15ff)..."
"Jesus Christus, der menschgewordene Gott, - das bedeutet, daß Gott alles menschliche Wesen leibhaftig angenommen hat" (403). "Das 'Christliche' ist nun nicht etwas jenseits des Menschlichen, sondern es will mitten im Menschlichen sein... Als Mensch vor Gott zu leben angesichts der Menschwerdung Gottes kann also nur heißen, nicht für sich selbst sondern für Gott und die anderen Menschen dazusein."
"Jesus Christus, der gekreuzigte Versöhner, - das bedeutet zunächst, daß die ganze Welt durch ihre Verwerfung Jesu Christi gott-los geworden ist... Aber weil das Kreuz Christi das Kreuz der Versöhnung der Welt mit Gott ist, darum steht gerade die gottlose Welt zugleich unter der Signatur der Versöhnung als der freien Setzung Gottes" (404). Daraus ergibt sich, "die Welt das sein zu lassen, was sie vor Gott in Wirklichkeit ist, nämlich eine in ihrer Gottlosigkeit mit Gott versöhnte Welt" Das heißt, "daß es echte Weltlichkeit gerade und nur aufgrund der Verkündigung des Kreuzes Jesu Christi gibt."
"Jesus Christus, der auferstandene und erhöhte Herr - das bedeutet, daß Jesus Christus Sünde und Tod überwunden hat und der lebendige Herr ist, demalle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden... Die Christusverkündigung gilt nun aller Kreatur als der befreiende Ruf unter die Herrschaft Jesu Christi" (405). Die Herrschaft Jesu Christi ist keine Fremdherrschaft, sondern die Herrschaft des Schöpfers, Versöhners und Erlösers, ... in dem allein alles Geschaffene seinen Ursprung, sein Ziel und sein Wesen findet." Er duldet aber auch "keine von seinem Gebot abgelöste 'Eigengesetzlichkeit'... Das Gebot Jesu [Christi] begründet keine Herrschaft der Kirche", sondern der "von der Kirche verkündigte Herrschaftsanspruch Jesu Christi bedeutet zugleich die Befreiung der Familie, der Kultur, der Obrigkeit zu ihrem eigenen - in Christus begründeten - Wesen." Hieraus ergibt sich das "rechte Miteinander, Füreinander und Gegeneinander der göttlichen Mandate..." (406).
"Es ist das Mandat der Kirche, Gottes Offenbarung in Jesus Christus zu verkündigen... Jesus Christus kann immer nur als der bezeugt und verkündigt werden, in dem Gott die Menschheit leibhaftig angenommen hat. In Jesus Christus ist die neue Menschheit, ist die Gemeinde Gottes... Wo also Jesus Christus gemäß göttlichen Mandates verkündigt wird, dort ist immer auch Gemeinde... Um dieses eigene 'Gemeinwesen' geht es nun und zwar zunächst in seiner notwendigen Unterscheidung von dem göttlichen Mandat der Verkündigung" (407). Das heißt, "daß die Verkündigung der Christusherrschaft über alle Welt unterschieden werden muß von dem 'Gesetz' der Kirche als Gemeinwesen..."
"Die Kirche als eigenes Gemeinwesen dient der Erfüllung des göttlichen Mandates der Verkündigung und zwar in einer zweifachen Weise: erstens: indem alles in diesem Gemeinwesen ausgerichtet ist auf die wirksame Ausrichtung der Christusverkündigung an alle Welt...; zweitens: indem eben in diesem Eintreten der Gemeinde für die Welt bereits das Ziel und der Anbruch der Erfüllung des göttlichen Mandates der Verkündigung geschehen ist... Die christliche Gemeinde steht an der Stelle, an der die ganze Welt stehen sollte... Andererseits kommt die Welt dort zu ihrer eigenen Erfüllung, wo die Gemeinde steht..." (408).
"Es ist die Eigenart der Kirche als eines eigenen Gemeinwesens, daß [sie] in der Umgrenztheit ihres eigenen geistigen und materiellen Bereiches die Unbegrenztheit der Christusbotschaft zum Ausdruck bringt und daß gerade die Unbegrenztheit der Christusbotschaft wieder in die Begrenztheit der Christusbotschaft wieder in die Begrenztheit der Gemeinde hineinruft" (409).
"Es ist die Gefahr des Katholizismus, daß er die Kirche wesentlich als Selbstzweck versteht aufkosten des göttlichen Mandats der Wortverkündigung. Es ist umgekehrt die Gefahr der Reformation, daß sie aufkosten des eigenen Bereiches der Kirche allein das Mandat der Wortverkündigung ins Auge faßt und damit die Selbstzwecklichkeit der Kirche, die gerade in ihrem Sein für die Welt besteht, fast ganz übersieht" (410f.). Beispiele: "die liturgische ARmut und Unsicherheit unserer heutigen evangelischen Gottesdienste, ... das fast vollständige Fehlen einer echten Kirchenzucht", das Fehlen "geistlicher Exerzitien" wie "Meditation", "die Unklarheit über den 'geistlichen Stand' und seine besonderen Aufgaben" (411). "Das ausschließliche Interesse an dem göttlichen Mandat der Verkündigung und damit das Interesse an dem Auftrag der Kirche für die Welt hat dazu geführt, daß der innere Zusammenhang dieses Auftrags mit dem eigenen kirchlichen Bereich übersehen wurde... Ohne Bereitung des Bodens verkümmert der Same und wird um die in ihm wohnende Fruchtbarkeit gebracht" (412).
Ulrich Zimmermann