Bedingungen menschlichen Handels und Urteilens

1. Soziale Umwelt als vorgegebener Raum des Handelns
1.1 Fragestellungen und ERgebnisse der Kulturanthropologie
Die Kulturanthropologie beschreibt den Pluralismus der Kulturen und liefert einen Beitrag zur deskriptiven Ethik. Sie beschreibt kulturelle Konstanten und kulturelle Varianten einander gegenüberstehen. Universale Konstanten sind z.b. Befriedigung des Bedürfnisses nach Nahrung, Regelung der geschlechtlichen Beziehungen, Bedürfnis nach Gegenseitigkeit etc. und die Vorstellung wie Begriffe wie richtig oder falsch, gut und böse. Kulturelle Varianten sind die Urteile im Einzelfall, was richtig oder falsches Rollenverhalten ist, dies ist kulturell gebunden und daher verschieden. Alle Kulturen gemein ist die Überhöhung von Werten zur strikten Einhaltung derselbigen. das in die Kultur hineinwachsende Kind lernt an Vorbildern, d.h. die Verhaltensmuster werden so verinnerlicht. diese Verhaltensmuster haben sich über Generationen herausgebildet und eingespielt.

1.2 Wandel von Lebensformen
geschehen in kürzester Zeit. Als Beispiel kann die Änderung der Sexualmoral von Ende der 60iger bis heute dienen. Heute stehen alternative Lebenskonzepte und -formen ohne ethischen Absolutheitsansprüche nebeneinander.
1.3 Unterschiedliches Ethos in unterschiedlichen Handlungsräumen? Wissenschaftsethos als Partialethos
Hans Mohr stellt fest, daß die Wert- und Normvorstellungen im Bereich wissenschaftlichen Forschens, hier besonders die Biologie, teilweise ganz speziell auf diesen Bereich bezogen und für andere menschliche Lebens- und Handlungsfelder nicht von Bedeutung, u.U. sogar unbrauchbar sind und spricht davon, daß das wissenschaftlichen Ethos ein Partialethos ist, da der Wissenschaftler(-innen) als Person in mehreren moralischen Welten lebt.

1.4 Institutionen
Das Leben vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist durch Institutionen wie “Familie, das Rechtswesen..., das öffentliche Bildungswesen...” geprägt. die neuzeitliche Institutionstheorie geht davon aus, daß Menschen alles regeln, d.h. sie schaffen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse Regelungen. Institutionen regeln Lebenszusammenhänge, während Normen den Ausgleich zwischen Interessen und Bedürfnissen regeln. wenn man von einer defizitären Ausstattung des Menschen qua Mensch ausgeht, kann man sagen, daß die Institution diese defizite zu kompensieren versucht. Institutionen haben einerseits stabilisierende und damit konservative Funktion, andererseits durch diese Stabilisierung können auch Innovationen erfolgen. dem Menschen, der sich in Institutionen vorfindet, wird durch die Institution eine Rolle zugewiesen, damit verbunden ist die Rollenerwartung.
1.5 Person und Rolle
Definition von Rolle nach dem Brockhaus: Unter Rolle versteht man “festgelegte Äußerungen und Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe, die von der sozialen Stellung und Situation des Handelns bestimmt und von den Gruppenmitgliedern erwartet werden.” Die Bereitschaft bestimmte Rollenmuster und Rollenerwartungen zu akzeptieren, schafft Verläßlichkeit und ist so die Voraussetzung für ein kalkulierbares Zusammenleben. Die verschieden Rollen bilden den Lebenskontext und verflechten das eigene Leben mit den anderer. Da verschiedene Rollen eventuell gleichzeitig zu spielen sind, die einander widerstreiten kommt es zum Rollenkonflikt.

1.6 Moral - Ethik - REcht
Ethikkommisionen und öffentliche ethische Diskussionen zielen in ihrer Konsequenz auf eine rechtliche Regelung ab, es werden also ethische Entscheidungen auf die der Gesetzgebung verlagert. Dabei stellt sich die Frage des Wertewandels und inwieweit geltendes Recht dem gewandelten sittlichen Bewußtsein entsprechen, inwieweit können ethischen Normen im Recht zum Tragen kommen?
Was ist also Recht eigentlich? Und wie ist das Verhältnis von Moral, Ethik und Recht zu bestimmen? Kants klassische Definition: “Man nennt die bloße Übereinstimmung oder nicht Übereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetz ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben die Legalität (Gesetzmäßigkeit), diejenigen aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetz zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben.”

1.7 Was ist Recht
Recht gehört zur Wirklichkeit des Menschen; es spielt für die Handlungsorientierung einzelne, aber auch gesellschaftlicher GRuppen eine wesentliche Rolle.
1.7.1  Das naturrechtliche Rechtsverständins
Die inhaltliche Bestimmung geht von der Frage nach der Natur der Sache oder des Menschen aus. Damit legt sich eine naturrechtliche Begründung der Menschenrecht nahe. Die Idee der Menschenrechte ist nicht um ein von Menschen gesetztes (=positives) Recht, um ein immer schon vorgegebenes ideales, den positiven Recht kritisch gegenüberstehendes Recht, von dem man Kritik zum gelten positiven Recht gewinnen kann. Menschenrechte sind in vielen Verfassungen Grundrechte und gehören in den Bereich des Unabsitmmbaren.
1.7.2 Das rechstpositivistische Rechtsverständis
Allgemeinverbindliches Recht kann nicht von ethischen Normen abhängig sein, da es keine verallgemeinerbare Erkenntnis des Guten gibt, deshalb muß man faktisch (=positiv) vorgefundenen Rechstssätzen ausgehen: Recht wird (immer wieder neu) festgesetzt, in dem altes übernommen oder neu gestaltet wird. Recht ist dann der Inbegriff der generellen Anordnungen für das menschliche Zusammenleben. Dabei werden die ethischen Fragestellungen bewußt ausgeblendet. Das hat zur Folge, daß jeder beliebige Inhalt Recht sein kann. Eine Unterscheidung von Recht und Moral kann dazu führen, daß sich Juristen und Richter nur noch mit der richtigen Anwendung von Gesetzen beschäftigen.
1.7.3 Das systemorientierte Rechtverständis
Luhmann versteht Gesellschaft als ein Gesamtsystem in dem das Rechtssystem zu den Handlungssytemen gehört und somit ein Sub-Sub-System bildet. Dabei geht es um die Ordnung des Verhaltens, um genersalisierte normative Verhaltenserwartungen. Moral dient dazu durch binäre Schematisierung die Unterscheidung von Achtung und Mißachtung einzuführen und einzuüben. Aber Moral ist wandelbar, deshalb braucht es ein System, das die generalisierten normativen Verhaltenserwartungen einer Gesellschaft verdeutlicht und wirksam macht. Dieses System ist das Rechtssystem, das aber nicht auf Gerechtigkeit abzielt, sondern nur die Funktion einer grundsätzlichen Orientierung bietet, Verhaltenserwartungen zu generalisieren und damit Handlungsmöglichkeiten überschaubar und generell diskutierbar machen. Das Recht ist wie die Gesellschaft auch einem ständigen Veränderungsprozeß unterworfen. Nachdem die Rechtsinhalte nicht mehr durch eine vorgegebene Wahrheit legitimiert werden kann, bleibt der Weg der Legitimation durch Verfahren, d.h. durch die Diskussion über Rechtssätze in einem Kommunikationsprozeß. Der Gerechtigkeitsbegriff wird systemtheoretisch neuformuliert: Gleiches muß gleich und Ungleiches ungleich entscheidbar sein.

1.8 Allgemeinverbindlichkeit von Ethik und Recht?
Ethische Überlegungen gehen von er Vorraussetzung aus allgemein oder nur eine Gruppe argumentativ überzeugen zu wollen, d.h. die Argumentation ist rein rational oder von der Prämisse des christlichen Glaubens aus. Der Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit und partikularem Anspruch muß faktisch modifiziert werden, da wir immer als Teil einer Gruppe auch Teil der Gesellschaft sind.
2.Entwicklung von Sittlichkeit
2.1 Unterschiedliche Theorien individueller moralischer Entwicklung
Folgende Thesen und Antithesen zur Entwicklung von Moral gibt es:
*genetische Ausstattung
 

*Milieu bedingt
*möglichst ungehinderte Entfaltung

*Sozialisationsprozeß
*Im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung zur Identität des Menschen
*Übernahme von Rollen

2.2 Ist ethisches Verhalten angeboren?
Die Frage steht im Raum, ob menschliches Verhalten durch die Stammesgeschichte vorprogrammiert ist. Sie stimmt für die Bereiche des motorischen Verhaltens, angeborene Auslöse- und Antriebsmechanismen, sowie für Lerndispositionen. Wieweit dies auch für die moralische Entwicklung gilt, versucht Eibl-Eibelsfeldt mit Taubblinden nachzuweisen. Die evolutionäre Ethik geht davon aus, daß in unserem Genom moralisch relevante Antriebs- und Verhaltensstrukturen kodiert sind, d.h. im Zuge der Evolution entstanden sind. Für eine menschliche Sippe war es nützlich, Verhaltensweisen wie Friedfertigkeit und Nächstenliebe aus zu bilden. Gesamtfitness bezeichnet die individuelle Fitness, wie auch die Fähigkeiten, die zur Vergrößerung der Überlebenschancen der Sippe betragen.

2.3 Moralisches Verhalten als Ereignis eines Lernprozesses?
Lerntheoretiker gehen davon aus, daß das Verhalten im zwischenmenschlichen Bereich erlernt wird und unterscheiden drei Weisen des Lernens:

*ERlernen bedingter Reflexe
*Lernen am Erfolg
Lernen am Modell

Frage dazu: Hat erlerntes Verhalten den Charakter ethischen Verhaltens? Wer legt die Lernziele fest bzw. wie kann man zu begründeten Lernzielen kommen? DArf ethisches Lernen auf Anpassung an die Gesellschaft reduzierten? Entbindet die Einsicht der Lerntheoretiker über den Mechanismus des sozialen Lernens von der Notwendigkeit persönlicher ethischer Entscheidung.

2.4 Entwicklungsstufen in der Moral-Entwicklung
2.4.1 Jean Piaget
Bei der Entwicklung von Regeln und des praktischen Umgangs mit ihnen beim Murmelspiel kam Piaget zu vier Stufen:
1. Motorisches und individuelles Stadium: Es dominieren motorische Gewohnheiten und       individuelle Wünsche
2. Egozentrisches Stadium:   Spielen nach eigenen Regeln ohne Rücksicht auf       andere, allerdings auch ohne gewinnen zu wollen
3. Kooperatives Stadium:   zunehmend kontrollierte Regeln, gewinnen wollen       aufgrund der verbindlichen Regeln
4. Stadium der Kodifizierung:  Spielregeln werden jetzt allen Parteien des Spiels       aufs Peinlichste genau befolgt.
Für das Bewußtsein der Bedeutung der Regeln unterscheidet Piaget drei Stadien:
1. Bis zum 4. Lebensjahr   noch kein Regelbewußtsein
2. Ab   5./6. Lebensjahr   Regeln gelten als unantastbar: heteronomer morali -             scher Realismus
3. Ab 10./11. Lebensjahr   aufgrund gegenseitiger Übereinkunft
Ethische Autonomie bezieht sich bei Piaget nicht auf den einzelnen, sonder auf ein Gruppenprozeß: Ethische Selbständigkeit im Sinne eigenverantworteter Regelungen erreicht nicht den isoliert lebenden einzelnen, er bedarf des anderen. Das Stadium autonomer Moral wird erst erreicht, wenn die individuellen Bedürfnisse, Neigungen etc. in einen Gruppenprozeß eingebracht und darin eingeordnet werden. Diese Konsenzbildung ist ein rationaler kognitiver Akt.
2.4.2 Lawrence Kohlberg
Theorie der kognitiv-strukturellen Entwicklung der Moral:
Prämoralische Phase:
  heteronome Moral:
   Orientierungsprinzip Strafe und Belohnung
   Orientierungsprinzip “Do, ut des” (Ich gebe, damit du gibst)
Konventionelle Phase:
  gesellschaftliche Ordnungsstrukturen und Rollenbilder
   Orientierungsprinzip des “guten Kindes”
   Orientierungsprinzip “Law and Order”
Nachkonventionelle Phase:
   Orientierungsprinzip Sozialvertrag
   Orientierungsprinzip Gewissen

2.5 Wer ist für Moral verantwortlich?
Moralische Entwicklung vollzieht sich in Sozialisierungsprozessen. Welche Institution ist also für die moralische Entwicklung verantwortlich?
Familie:  Entscheidende Sozialisationsangentin?
Gesellschaft: Raum.. Lebens- und Bildungsgefüge für Moralentwicklung?
Staat:  Mit Bildungsinstitutionen, Kulturpolitik, Gesetzgebung, Rechtspflege, Straf -   recht
Kirche:  Für Moral, Sittlichkeit einer Gesellschaft verantwortlich? Wenn Ethos nicht    einfach ein Produkt des Nachdenkens ist, wenn es sicht letzlich einer religiö -   sen Grundlage verdankt, müßte dann nicht die für Religion und Glaube zustän -   dige Instanzen auch Verantwortung für die Moral einer Gesellschaft übernehe -   men?
3. Die ethische Dimension des Gewissens
3.1 Fragestellungen einer Theorie des Gewissens
Gewissen läßt sich nicht ohne weiteres definieren, die Definition ist abhängig vom jeweiligen Fragehorizont.
 
 
 

Es gibt heute acht aktuelle Fragekomplexe:
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

3.2 Der Begriff des Gewissens und die Deutung des Gewissensphänomens
Das deutsche Wort Gewissen erhielt durch Luthers Bibelübersetzung Eingang in unsere Sprache. Im Griechischen heißt es suneidesiß  im Lateinischen conscientia.
Die alten Kulturen (Naturvölker, Inkas, Ägypter und Israeliten) hatten keine Begriff für Gewissen. Dafür dienste im AT das Herz.
Auch bei Sokrates, Platon und Aristoteles gab es noch keinen Begriff, es entwickelte sich die Vorstellung von einer Stimme Gottes, sie weist als Wächter die rechte Richtung.
In der Bibel sind zu einer Lehre von Gewissen keine Aussagen zu gewinnen. Jesu und auch die Evangelisten kannten kein spezielles Wort für Gewissen. Paulus hatte den griechisch-römischen Gewissensbegriff: Gewissen als Wissen von Gut und Böse, ein allen Menschen mögliches Wissen um den Willen Gottes. Durch den Glauben ist das gewissen frei vom Gesetz und richtet sich am Nächsten aus.
Im Mittelalter entwickelte die Scholastik eine ausdifferenzierte Lehre vom Gewissen und unterschied conscientia von suneidesiß. Letzteres meint gute Veranlagung, ein natürliches Seelenvermögen mit der Neigung zum Gutem. Thomas von Aquin sah darin das naturhaft gegebenen Vermögen, die Prinzipien des Naturrechts, die allgemeingültigen sittlichen Grundwahrheiten, irrtumsfrei zu erkennen. Conscientia meint den vom Menschen korrekt erfahrenen Gewissensspruch und damit das Situationsgewissen.
Luther bekämpfte die suneidesiß-Lehre und bestritt die naturhafte Anlage des Menschen Gutes zu erkennen. Die conscientia ist solange ein irrendes Gewissen solange es sich nicht an den Glauben gebunden ist. Die Befreiung durch Jesus Christus besteht darin, Daß sie das anklagende, schuldig sprechende Gewissen entmachtet. Luthers Gewissensverständis konnte sich zunächst nicht durchsetzen; der mittelalterliche Gedanke der unfehlbaren göttliche Stimme, die dem Menschen göttliche Würde verleiht, entsprach besser dem neuzeitlichen Selbstverständnis.
Rousseau hat gerade im Gewissen als eine Naturanlage die Gottähnlichkeit des Menschen begründet gesehen.
Kant definiert das Gewissen als Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen, es ist der Ort an dem die Pflicht (kategorischer Imperativ) sich gebietend als Richter zu Wort meldet. Daraus resultiert notwendiger Weise die Forderung der Gewissensfreiheit (vgl. Art. 4, Abs. 1 GG). Neben diesen positiven Bewertungen des Gewissens hat Nitzsche das Gewissen als Unterdrückungsinstrument ausgemacht, indem es dazu dient die ursprünglichen vitalen Instinkt des Menschen zu unterdrücken bzw. gegen den Menschen selbst zu wenden, so daß da schlechte Gewissen des Menschen zu einer verkrüppelten Form des Lebens führt.

3.3 Das befreite Gewissen (Luther)
Auf dem Hintergrund des Wormser Reichstages von 1521 wird nun Luthers Gewissensverständis deutlich: “Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, (...) so bin ich durch die Stellen der Hl. Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Wort Gottes (capta conscientia in verbis dei). Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.” Kaiser Karl betonte dagegen die Tradition “der gesamte, über tausend Jahre alten Christenheit.”
Luther kennt das anklagende Gewissen, doch ist es nicht die Stimme Gottes im Menschen (suneidesiß-Lehre) oder die Fähigkeit des Menschen das Gute, d.h. den Willen Gottes, zu erkennen. Das Gewissen ist für Luther der “Ort” im Menschen, an dem sich entscheidet, wie es um den individuellen Menschen bestellt ist. Dabei geht es grundlegend um die Wirklichkeit bzw. die Situation des Menschen vor Gott. Zunächst erfährt der Mensch das Gewissen als anklagend, aber dem verdammenden Gewissensspruch kann der befreiende Gewissensspruch gegenübertreten. Das gute Gewissen ergibt sich allerdings nur aus dem rechten Vertrauen auf Gott. Im Gewissen entscheidet sich, welches Wort der Mensch hört: das verskklavende Wort des Teufels oder das vergebende Wort Christi. Die Freiheit des Gewissens ist begründet in der Bindung des Gewissens an Gott.

3.4 Ethische Entscheidung und Gewissensfreiheit
Wer Gewissensfreiheit fordert, fordert nicht Beliebigkeit und Unverbindlichkeit; es geht um jene Situationen, in denen der Mensch in seinem Innersten (Personenzentrum), in seinem Personsein herausgefordert ist. Dies ist aber der Beurteilung von außen entzogen.
Wenn jemand eine Gewissensentscheidung trifft, dann muß von anderen dies Entscheidung akzeptiert und respektiert werden als persönliche Entscheidung, in der der andere sich als Person “definiert”.
Bei der Gewissensentscheidung darf die Person des anderen ihn, der eine andere Gewissensentscheidung getroffen hat, nicht als menschliches Subjekt abqualifizieren. Person und Werk sind zu unterscheiden. Aber das relative Recht des gesinnungsethischen Ansatzes besteht in der Akzeptanz des Unterschiedes zwischen faktischem Verhalten und subjektiver Intention.
Der christliche Horizont: Der Christ muß sich vor der Welt coram mundi verantworten, aber es ist nicht das Endgültigem, sondern das Vorletzte, denn letzlich (“vor Gott” = “coram deo”) wird der Mensch nicht mit seinen Taten identifiziert. Aber auch der Christ wird immer wieder Schuld auf sich laden. Aber er wird getrost (mit “getröstetem Gewissen”) handeln. Gewissensfreiheit bedeutet, daß sein Gewissen letzlich nur an Gott gebunden ist und daß er auf die VErgebung hoffen darf.
Daraus folgt: Jeder kann nur gemäß seiner Einsicht (“nach besten Wissens und Gewissen”) handeln. Jedem muß die Möglichkeit geboten werden, sich so zu verhalten, wie es seiner Person, seinem Gewissen entspricht. Jedem muß die Möglichkeit offengehalten werden, sich von seinem Tun zu distanzieren und neu anzufangen.

3.5 Gewissen - Ein Interpretationsvorschlag
Gewissensfunktion könnte als eine angeborene (= stammesgeschichtlich erworbene) “Lerndisposition” verstanden werden, Gewissensinhalte könnte als im Lauf der individuellen Erziehung erworbene (verinnerlichte) Wertvorstellungen verstanden werden.
Im Gewissen erfährt sich der Mensch als Verantwortlichen, es “meldet sich”, in dem es unser Tun und Lassen begleitet und es kann zum Schweigen gebracht werden.
Man unterscheidet zwischen nachfolgendem (conscientia consequens), das sich auf vollendete Tatsachen bezieht und als “Urteilsspruch” erfahren wird, und vorausblickendem Gewissen (conscientia antecedens), das sich auf künftiges Verhalten bezieht und als “Warnung” erfahren wird.
Gerade in der Nicht-Identität und des Selbstwiderspruchs meldet sich im Gewissen die Frage nach der Identität der Person. Auf die Einheit der Person ansprechbar kann man nur als einzelner sein, daher gibt es kein kollektives Gewissen.
Weil das Gewissen der Ort ist, an dem die Identität des Menschen auf dem Spiel steht, darf das Gewissen nicht verletzt werden.
Für die Identität des Menschen ist es wichtig weil er sich zu seiner Vergangenheit und Zukunft stellt: Bekenntnis zur Vergangenheit und Zukunft als Herausforderung.
Das Was der Mensch im Gewissen bindet, entscheidet darüber wer der Mensch ist.
Das was den Menschen im Gewissen bindet, ist entweder Glaube an sich selbst oder der Glaube an Gott.
Das Gewissen ist der Ort im Menschen, an dem sich entscheidet, welches Wort den Menschen trifft und der Ort an dem der Mensch Gottes Wort begegnet und sich ihm stellt, deshalb ist das Gewissen Ort des Widerstreits von Glaubensgewißheit.