U. Cassuto
The Documentary Hypothesis
and the Composition of the Pentateuch
Eight Lectures
Translated from the Hebrew by Israel Abrahams
Jerusalem 1961
Die Arbeiten des jüdischen Bibelwissenschaftlers Umberto Cassuto (1883-1951) zum Pentateuch und insbesondere zur Genesis sind heute weitgehend unbekannt. Dabei sind sie gerade für diejenigen, die nach Alternativen zur klassischen Pentateuchkritik suchen, eine wahre Fundgrube.
Das Büchlein "The Documentary Hypothesis" ist die Druckfassung einer Vorlesungsreihe, die Cassuto im Sommer 1940 im Rahmen eines Postgraduierten-Kurses für Lehrer in Jerusalem hielt. Es erschien 1961 in englischer Übersetzung und ist aufgrund der einfachen, bisweilen etwas blumigen Sprache Cassutos relativ gut zu lesen. In der Vorlesungsreihe faßt Cassuto die Hauptthesen seines großen Werkes zur Genesis, "La Questione della Genesi" (Florenz 1934), zusammen. Dieses Werk ist in Italienisch erschienen, und meines Wissens gibt es bisher lediglich eine neuhebräische Übersetzung ("The 'Quaestio' of the Book of Genesis", Jerusalem 1990). Für den, der eine dieser beiden Sprachen beherrscht, lohnt es sich auf jeden Fall, auch dieses Buch einmal in die Hand zu nehmen. Sowohl in dem großen Werk als auch in der hier besprochenen Zusammenfassung kann man mit Hilfe des Registers zu vielen Bibelstellen interessante Hinweise finden.
In der ersten Vorlesung zeichnet Cassuto die Entwicklung der Pentateuchkritik nach und zieht hochinteressante Parallelen zur kritischen Erforschung Homers. Er kommt zu dem Schluß, daß die Ergebnisse der klassischen Pentateuchkritik durch subjektive Beobachtungen der Forscher bestimmt sind, die durch die Denkprinzipien ihrer Zeit geprägt waren. Als Alternative hierzu fordert Cassuto dazu auf, objektiv und vorurteilsfrei an die Texte heranzugehen und bei ihrer Erforschung die Bedingungen zu berücksichtigen, die im Alten Orient im allgemeinen und in Israel im besonderen herrschten. Hier muß gefragt werden, ob Cassuto nicht ein wenig der Illusion erliegt, daß vorurteilsfreie Bibelauslegung möglich sei. Auch er führt ja wieder Kriterien zur Beurteilung der Texte ein, so z.B. die Kenntnis des Alten Orients. Doch ist dies nicht sein einziges Kriterium, wie wir noch sehen werden.
In der zweiten und dritten Vorlesung behandelt Cassuto die Frage der verschiedenen Gottesnamen, die Anlaß und Hauptkriterium für die Ausbildung der Pentateuchkritik waren. Cassuto hingegen sieht in den Gottesnamen kein Kriterium zur Quellenscheidung. Er geht von der Einheit der Torah aus und versucht nun Prinzipien zu finden, die der Verwendung unterschiedlicher Gottesnamen zugrundeliegen. Das Grundprinzip besteht für ihn darin, daß die Bezeichnung "Elohim" die allgemeine Gottesidee ausdrückt, wie sie in der gesamten altorientalischen Weisheitsliteratur zu finden ist, während das Tetragrammaton YHWH spezifisch den Gott Israels in seiner Beziehung zu den Menschen meint. So werde in Prophetie und Gesetzestexten fast ausschließlich das Tetragrammaton verwendet, weil beide exklusiv an Israel gerichtet seien. In der Weisheitsliteratur dominiere hingegen die Gottesbezeichnung "Elohim". Hier stehe die allgemeine Gottesidee im Vordergrund, worin die israelitische und die übrige altorientalische Weisheitsliteratur übereinstimmten.
Die Nagelprobe für seine These stellen nun die narrativen Texte dar, in denen beide Namen parallel verwendet werden. Cassuto bringt eine ganze Reihe exegetischer Beispiele. So werde z.B. in der Schöpfungsgeschichte "Elohim" verwendet, weil Gott hier als Schöpfer und Herr der ganzen Welt im Blick sei. In der Paradiesgeschichte erscheine Gott hingegen in seiner Beziehung zum Menschen, weswegen das Tetragrammaton gebraucht werde. Die Verbindung YHWH-Elohim solle zeigen, daß der Gott YHWH, der hier zum ersten Mal erwähnt werde, mit dem "Elohim" des vorherigen Abschnitts identisch sei. So ergibt sich nach Cassuto die Verwendung unterschiedlicher Gottesnamen aus dem jeweiligen Inhalt der Texte und ist kein Kriterium für die Quellenscheidung.
In der vierten Vorlesung beschäftigt sich Cassuto mit der Quellenscheidung aufgrund von Sprache und Stil. Er demonstriert dies an der Verwendung des Verbes yld ("zeugen, gebären"), da nach der Urkundenhypothese J das Verb im Qal und P das Verb im Hif(il verwende. Er versucht zu zeigen, daß die unterschiedliche Verwendung des Verbs durch die Regeln der hebräischen Grammatik bedingt ist und daher nicht als Kriterium für die Quellenscheidung herhalten kann.
Im Blick auf den Stil zeigt Cassuto auch die Gefahr von Zirkelschlüssen auf, bei denen vorgefaßte Kriterien die Quellenscheidung bestimmen und die Ergebnisse wiederum die vorgefaßten Kriterien bestätigen.
In der fünften Vorlesung geht es um unterschiedliche Gottesbilder, die den verschiedenen Quellen zugeschrieben werden. Auch hier betont Cassuto, daß verschiedene Aspekte und Sichtweisen keineswegs ein Grund zur Quellenscheidung sind, sondern daß uns die Torah als Einheit "the various facets of the Divine Person" lehren will. Hier nennt Cassuto einen weiteren wichtigen Grundsatz seiner Arbeitsweise: "... the Torah is not a philosophical treatise, its sole purpose being to speak to the heart of man, and to implant faith therein" (59). Die Torah will nicht Philosophie lehren, sondern Glauben wecken!
In der sechsten und siebten Vorlesung schließlich wendet sich Cassuto den Dubletten, Wiederholungen und Widersprüchen zu, aufgrund derer einzelne Erzählungen auf unterschiedliche Quellen zurückgeführt werden. Auch hier versucht Cassuto, durch detaillierte sprachliche Untersuchung die Einheitlichkeit der Texte nachzuweisen. Auch in diesem Zusammenhang kann er sich bisweilen den versteckten Hinweis nicht verkneifen, daß diejenigen, die hier vorschnell Quellenscheidung betreiben, erst einmal richtig Hebräisch lernen sollten (z.B. 73). Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, daß Cassutos Argumentation nicht an allen Stellen überzeugend ist und er bisweilen der Versuchung der gewaltsamen Harmonisierung erliegt.
Im Blick auf die Dubletten bringt Cassuto am Beispiel der Ahnfrauen (Gen 12; 20; 26) einen interessanten Gedanken ein: Die Torah greift hier unterschiedliche Traditionen auf, die im Umlauf waren. Dies ist aber nicht nicht als historische Unzuverlässigkeit zu verstehen, sondern nach semitischer Tradition als Bekräftigung durch zwei oder drei Zeugen (82f.).
In seinen abschließenden Bemerkungen stellt Cassuto zunächst fast triumphierend fest, daß sich alle Kriterien der Quellenscheidung in der Pentateuchkritik als unhaltbar erwiesen hätten. Schließlich hebt Cassuto noch zwei Punkte hervor, die seiner Meinung nach die künftige Forschung bestimmen sollten:
1. Der Pentateuch ist als Einheit zu sehen, die durchaus aus verschiedenen Quellen schöpft, aber dennoch planvoll und einheitlich gestaltet ist.
2. Diese Einheit gilt auch über den Pentateuch hinaus: Entgegen der üblichen Ansicht geht der Pentateuch nicht nur chronologisch den Propheten voraus; die Propheten bauen auch inhaltlich auf dem Pentateuch auf. Hier bringt Cassuto nochmals seinen hermeneutischen Grundsatz auf den Punkt: "... one spirit moves the Torah and prophecy" (105).
Bei Umberto Cassuto begegnen wir also einem eigenständigen, originellen und auch geistlich lehrreichen Ansatz, der bei der Suche nach Alternativen zur klassischen historisch-kritischen Exegese des Alten Testaments eine äußerst hilfreiche Handreichung bietet.
Ulrich Zimmermann